Horst Schroeder

Selbständige Veröffentlichungen

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1904

Arbeite und bete (Esther Waters). Roman von George Moore. Übersetzt von Annie Neumann-Hofer. (Frauenromane von George Moore. Autorisierte deutsche Ausgabe, besorgt und eingeleitet von Max Meyerfeld. Erster Band.) Berlin: Egon Fleischel & Co. 1904. XX, 491 S.

Einleitung, S. XVIII-XX: „[…] Esther Waters ist ein Dienstbotenroman von spezifisch Londoner Kolorit, das in gleicher Vollendung höchstens noch George Gissing zu Gebote stand. In reichem Maße hat Moore, um diese Wirkung zu erzielen, auch das Cockney, die Londoner Gemeinsprache und wohl die gemeinste Großstadtsprache, herangezogen. Hätte die Übersetzung den Versuch unternommen, davon einen Begriff zu geben, so wäre einzig der Berliner Dialekt mit seiner Ruppigkeit in Betracht gekommen. Doch mir scheint, es war ratsam, darauf zu verzichten. Will man die Leute reden lassen, wie ihnen der Schnabel in Berlin gewachsen ist, so gehört dazu auch die Ackerstraße und nicht Oxford Street, Aschinger und nicht das Criterion, Hoppegarten und nicht Epsom. Sonst ergibt sich zwischen Örtlichkeit und Jargon ein unerträglicher Widerspruch, mit dem ich mich weniger aussöhnen könnte, als mit dem Umstand, daß sich die Personen im Deutschen jetzt etwas ‚gebildeter’ ausdrücken als im Englischen. Dann hätte eben von Grund aus alles beseitigt werden müssen, was an das Original erinnert, so daß der Londoner in einen Berliner Roman umgegossen worden wäre. Deren aber haben wir genug, die heimischem Boden entsprossen sind; der zugezogene hätte doch nun und nimmer den Eindruck erweckt, als wär’ er mit Spreewasser getauft. Ferner will der waschechte Jargon wieder nicht zu dem diskreten Realismus der Beschreibung stimmen, für die wir heutzutage grellere Farben verwenden. Kurz, auf Schritt und Tritt wären hier Unzulänglichkeiten, innere Widersprüche entstanden. Wenn es hingegen gelungen ist, etwas von der Eigenart des Originals herüberzuretten, wird auch der deutsche Leser eine Vorstellung von George Moores impressionistischem Stil zu erlangen vermögen. Bald schwingt er sich zu poetisch gehobener Sprache empor, bald flattert er in sorglosester Alltagsrede unruhig auf der Erde. Seine Prosa wogt auf und ab, als sollte sie eine gewisse nervöse Fahrigkeit ihres Schöpfers veranschaulichen. Beständige Wiederholungen sind bei ihnen unvermeidlich. In der Furcht, zu wenig zu sagen, sagt er manches lieber zwei- und dreimal. Das Naheliegende entgeht häufig seinem Blick, dafür verweilt er dann bei einer Einzelheit, die er nicht genug einschärfen kann. Gesuchte Epitheta sind eine besondere Schwärmerei von ihm. All das sollte nach Möglichkeit übernommen, aber nicht retouchiert werden. Im übrigen brauche ich wohl kaum zu versichern, daß ich persönlich mir die Übersetzung in manchen Punkten anders gewünscht hätte. | Wie sie jetzt vorliegt, ist sie nach der Sixpenny-Edition des englischen Originals angefertigt, weil ihr der Autor selbst den Vorzug gegeben hat, vermutlich um ihrer größeren Prägnanz willen. Sie weicht stellenweise nicht unbeträchtlich von der ursprünglichen Fassung ab. So ist, um nur eins herauszugreifen, die Szene weggelassen, in der Esther an einem unehelichen Kinde die Nottaufe vornimmt; die Kritiker können es ihm also nicht mehr aufmutzen, daß er hier Thomas Hardys Tess of the D’Urbervilles nachgeahmt habe. – Nicht unerwähnt bleibe, daß im dreißigsten Kapitel eine nicht grade kurzweilige, unnötig retardierende Auseinandersetzung über die Technik des Wetttens gestrichen worden ist. | Mit dem Titel Esther Waters hätte der deutsche Leser nicht viel anfangen können. Der alttestamentarische Vorname, der so gut zu der Methodistin paßt, hätte ihn leicht auf eine falsche Fährte gewiesen. Es empfahl sich daher, einen andern Obertitel zu wählen und den Namen der Heldin nur für den Untertitel beizubehalten. ‚Arbeite und bete!’ – diese Mahnung zieht sich wie ein Leitmotiv durchs ganze Buch und wird im Schlußkapitel mit lauter Stimme verkündet. […]“

Rezensionen: Frieda Freiin v. Bülow im LE, Bd. 7, Nr. 4 (15.11.04), 292-293: „Max Meyerfeld beginnt seine biographische Einleitung mit einer Stelle aus George Egertons geistvollem Roman Die Mühle Gottes. Da heißt es: ‚Darf ich mir die Frage erlauben, welcher neuere Roman Ihrer Ansicht nach als zeitgenössisches Sittengemälde wohl von bleibendem Wert ist?’ – ‚Das ist eine große Frage. In gewisser Beziehung wohl sicher Esther Waters.’ – ‚Habe nie von diesem Roman gehört. Wer ist der Verfassser?’ – ‚Ein Ire mit Namen Moore.’ – George Moores Esther Waters ist im englischen Urtext vor etwa zehn Jahren [1894] erschienen und hat damals in der prüden, scheinheiligen, englischen Gesellschaft einen Sturm sittlicher Entrüstung hervorgerufen. Warum? Weil die Heldin des Romans eine arme Dienstmagd ist, die von ihrem Verlobten verführt und verlassen wird und sich dann mit ihrem unehelichen Kind unter tausend Entbehrungen, Anstrengungen und Ängsten redlich durchs Leben ringt. […] Der deutsche Leser wird die Anfeindungen von Seiten der Moral gar nicht begreifen; denn Esther Waters ist ein in hohem Maße sittliches und ernstes Buch. Der Geist, der es durchdringt, ist durch den deutschen Titel Arbeite und bete ganz richtig gekennzeichnet. Trotzdem scheint mir die Änderung des Titels ein Fehler. Ein Buch, das bereits zu einer gewissen Berühmtheit gelangt ist, hat ein Recht auf den Namen, unter dem es bekannt geworden. Max Meyerfeld meint, der alttestamentliche Name ‚Esther’ könne den deutschen Leser irreführen. Ich wüßte nicht, daß bei der Esther Franzenius von Toni Schwabe z.B., oder bei der Ruth von Lou Andreas-Salomé dies der Fall gewesen wäre. Jeder Gebildete weiß, daß alttestamentliche Taufnamen bei den englischen und deutschen Sektierern, ebenso bei den Skandinaviern und selbst noch bei mitteldeutschen Bauern gebräuchlich sind. Frau Annie Neumann-Hofer, die Übersetzerin, hat den vulgären Londoner Straßen-Jargon, dessen sich Moore gern bedient, sehr geschickt verdeutscht. Alles in allem kann der Roman nicht besser als durch das anfangs erwähnte Urteil aus Egertons Mühle Gottes charakterisiert werden. Er ist ein Sittenbild von dauerndem Wert, durch Freimut und Kraft unter den zeitgenössischen Produkten seines Landes hervorragend. Max Meyerfelds Einleitung gibt einen fesselnden literarisch-biographischen Essai über den Verfasser, der den Leser nicht nur auf das Erstlingswerk, Esther Waters, sondern auch auf die späteren ‚Frauenromane’ George Moores begierig macht.“ – Albert Kronenberg in der Düsseldorfer Zeitung vom 12.09.04, Nr. 312 (Unterhaltungsbeilage Nr. 7: ‚Ein Dienstboten-Roman’): „Ein alter Roman in neuem Gewande, in musterhafter deutscher Übertragung, der als erster Band einer unter dem Titel ‚Frauenromane von George Moore’ vorgesehenen Serie eben die Presse verlassen hat. Vor diesem Werke darf der Kritiker sich ganz dem Zauber der Dichtung hingeben, und hat er es zu Ende gelesen, dann möchte er die ungeduldige Feder von sich schleudern, um nochmals in dem frischen, klaren Born wahrer Kunst seine Seele zu baden oder wenigstens die ergreifendsten Partien noch einmal auf sich wirken zu lassen. Und wenn er sich endlich aufgerafft hat, seine Eindrücke zu schildern, des Werkes Licht- und Schattenseiten bloßzulegen, da stockt die Feder, unschlüssig, wo sie beginnnen, was sie berichten, wie sie es ausmalen solle. Zuletzt müssen wir uns mit wenigen Streiflichtern bescheiden und fordern aus voller Überzeugung jeden auf, der Ohren hat zu hören und Augen zu sehen, die Farbenpracht zu schauen, die ihm aus diesem erhabenen Lebensgemälde entgegenstrahlt, den geheimen Quellen dichterischer Offenbarung zu lauschen, die diesem unversiegbaren Born entströmen.“ – Arthur Eloesser in der NR, Bd. 15, Nr. 12 (Dez. 1904), 1487-1488: „Der Herausgeber Max Meyerfeld, dem wir eine gut orientierende Einleitung verdanken, hat den Titel des Romans in Arbeite und bete […] umgewandelt, was ihn deutlich, aber nicht geschmackvoll macht.“

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Die Herzogin von Padua. Eine Tragödie aus dem 16. Jahrhundert von Oscar Wilde. Deutsch von Max Meyerfeld. Autorisierte Übersetzung. Berlin: Egon Fleischel & Co. o.J. [1904]. [vi]. 176 S.

S. [ii]: „Buchschmuck von Lucian Bernhard“ [Pseudonym von Emil Kahn (1883-1972)].  S. [iv]: „Alle Rechte vorbehalten. Den Bühnen gegenüber als Manuskript gedruckt. Das Recht der Aufführung ist allein durch S. Fischer Verlag, Berlin W, Bülowstraße 91 zu erwerben.“

Vorankündigung im LE, Bd. 6, Nr. 24 (15.09.1904), 1752: ‚Ein unbekanntes Drama von Oscar Wilde. Oscar Wildes dramatisches Erstlingswerk Die Herzogin von Padua, ein Renaissancedrama in Versen, das er 1883 für die berühmte Schauspielerin Mary Anderson geschrieben hatte, galt bisher als verschollen. Man wußte nur, daß es 1891 in Amerika aufgeführt, aber niemals im Buchhandel erschienen war. Nunmehr hat Dr. Max Meyerfeld das einzige in England existierende Exemplar des Stückes, Wildes Handexemplar, ausfindig gemacht und mit Erlaubnis des jetzigen Besitzers ins Deutsche übertragen. In dieser deutschen Gestalt wird das Werk, das shaksperischen Bahnen folgt, in einigen Wochen erscheinen (Berlin, Egon Fleischel & Co.).’ – Veröffentlichung von Akt I der Tragödie zuerst in dem im gleichen Verlag erscheinenden LE, Bd. 7, Nr. 1 (01.10.1904), 35-47.

Rezensionen: Alfr. B. [Alfred Brieger?] in der Beilage der Allgemeinen Zeitung (München), Nr. 234, 12.10.04, 78: „Indem ich der miserablen Verdeutschungen Wildescher Werke gedenke, die mir in jüngster Zeit vor Augen gekommen sind, kann ich nicht genug die ausgezeichnete Übersetzung Meyerfelds rühmen. Gerade bei dieser Tragödie und der Eigenart ihrer Sprache hatte der Übersetzer besondere Schwierigkeiten zu überwinden, wenn er dem Original treu bleiben und den Germanismen gerecht werden wollte. Dieses Dilemma hat Meyerfeld mit unleugbarem Geschick überwunden.“ – Der schottische Theaterkritiker und Ibsen-Übersetzer William Archer (1856-1924) im Daily Chronicle (‚Books of the Day: A Drama and Its Story’), 21.11.04: „The rendering is spirited and good; but German is scarcely the idiom in which the author [Wilde] would have chosen to come before the world.” – Der österreichische Anglist Rudolf Fischer (1860-1923) im Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, Bd. 113 (1904), 433-434: „Bloß vom Standpunkte der Entwicklung aus scheint mir die Herzogin von Parma [sic] wertvoll zu sein. Leider ist uns das Werk im Original nicht zugänglich. So müssen wir uns mit der Übersetzung begnügen, die aber glücklicherweise Max Meyerfeld gut gelungen zu sein scheint. Sie liest sich wie ein Original, ist glatt und stellenweise von schwunghafter Rhetorik, was man der Wildeschen Textierung gern zutraut, läßt markige Kraft vermissen, die man bei Wilde nicht sucht.“

Erstaufführung am Deutschen Schauspielhaus Hamburg am 01.12.1904 mit Grete Egenolf als Herzogin, Rudolf Schildkraut als Herzog und Konrad Gebhardt als Guido Ferranti. – Siehe im einzelnen zu dieser Aufführung meinen Aufsatz ‚Two “Early and Disastrous German Productions“ of The Duchess of Padua’, The Wildean, No. 31 (July 2007), 58-71. Siehe auch Meyerfelds Postkarte an Robert Ross mit dem aufgeklebten Besetzungszettel und der Bemerkung: „Succès d’estime. Mis-en-scène excellent, principal actors rather poor.“ (UCLA, William Andrews Clark Memorial Library).

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1905

Oscar Wilde: De Profundis. / Aufzeichnungen und Briefe aus dem Zuchthaus in Reading. Herausgegeben und eingeleitet von Max Meyerfeld. Berlin: S. Fischer 1905. VIII, 115 S.

Buchausgabe von Wildes berühmter „Schrift“ aus dem Zuchthaus zu Reading nebst vier von Wilde im Gefängnis geschriebenen Briefen an Robert Ross, zuerst veröffentlicht in der ebenfalls von Fischer verlegten Neuen Rundschau (Bd. 16, Nr. 1-2 [Jan.-Febr. 1905]). (Siehe Rubrik ‚Nichtselbständige Veröffentlichungen: Übersetzungen‘.) Titelrahmen und Initiale von Walter Tiemann (1876 – 1951).

Das Buch erschien am 11.02.1905 oder wenige Tage zuvor. (Siehe Verlagsanzeige im Börsenblatt für den deutschen Buchhandel [Leipzig], Bd. 72, 11.02.1905, S. 1452.) Es kam somit um ca. 2 Wochen der englischen weitaus kürzeren Ausgabe zuvor, zu der Ross sich dann doch entschlossen hatte und die am 23.02.1905 ausgeliefert wurde. (Mason’s Behauptung, die deutsche Buchausgabe sei erst „later in the year“ erschienen, ist nicht korrekt [Stuart Mason, Bibliography of Oscar Wilde, (London 1914), S. 445].)

Abgesehen von einigen geringfügigen Änderungen – insbesondere bezüglich Tempus und Orthographie – ist die Übersetzung identisch mit der Erstveröffentlichung in der Neuen Rundschau. In editorischer Hinsicht ist erwähnenswert, daß die auf englisch abgefaßte Notiz über die Autorisierung Meyerfelds und das Copyright von Ross auf den hinteren Vorsatz verwiesen ist und daß das Vorwort nun mit den Worten schließt: „Robert Ross, dem literarischen Testamentsvollstrecker Oscar Wildes, gebührt der herzlichste Dank, daß er sich entschlossen hat, dieses Dokument seines Freundes auf meine Fürsprache hin der Öffentlichkeit zu übergeben. Als mir die Arbeit anvertraut wurde, war eine Publikation in England noch nicht geplant. Mittlerweile hat sich aber infolge der unsicheren, verwickelten Rechtsverhältnisse die Notwendigkeit herausgestellt, eine englische Ausgabe zu veranstalten. Sie wird der deutschen nichts von ihrem authentischen Werte rauben: denn wir waren in der Lage, das Werk früher erscheinen zu lassen und bringen es in der denkbar größten Vollständigkeit, während die englische Ausgabe sich manche Striche gefallen lassen und auf die Briefe, die den besten Kommentar zu den Aufzeichnungen bieten, ganz verzichten mußte. / Januar 1905. / Max Meyerfeld.“

Das Buch wurde ein augenblicklicher und andauernder Kassenerfolg: 1. – 8. Aufl. 1905, 9. – 10. Aufl. 1906, 11. – 13. Aufl. 1907. Entsprechend gab es eine Fülle von Rezensionen. Die achtzehn mir bekannt gewordenen stammen zum Teil von namhaften Autoren und sind allesamt umfangreich. Siehe die folgende detaillierte Auflistung in chronologischer Reihenfolge.

Karl Strecker, ‚De Profundis. Betrachtung der Aufzeichnungen Oscar Wildes im Zuchthause zu Reading‘, Tägliche Rundschau (Berlin), 13.-16.02.1905, Nr. 37-40, Unterhaltungsbeilage, 146-147, 149-151, 153-154, 157-159: „[13.02.05] I. Von einem Buche will ich sprechen, das man als Seelenenthüllung einst vielleicht über alle Bücher unseres Kulturalters stellen wird. Groß ist sein ethischer Ernst, größer seine Wahrhaftigkeit, leuchtend und blühend sein Stil, herzaufwühlend seine Klage, zu Tränen versöhnend sein Schmerz und seines Schmerzes Echtheit. Wer Ohren hat, der höre – höre diese Stimme eines Menschen, die so erschütternd aus der Tiefe schallt. Eines ....? Des Menschen, denn es ist ein Dichter. Wer aber könnte Höhen und Tiefen des Menschengeheimnisses so zugleich erfassen, wie ein Dichter? Aus der Fülle eines Elends heraus, das keine Phantasie vergrößern kann, redet dieses Dichters Stimme so ernst und tief und groß zu uns, als wäre der Sänger des Inferno auf diese Erdenbühne zurückgekehrt und spräche nun aus der Empfindung eigener Schmerzen heraus, was er einst aus beflügelter Phantasie mit der Lust am Fabulieren in Terzinen goß. ▪ ... Zwanzig Monate fast hatte der Schöpfer der Salome und des Dorian Gray im Zuchthause gesessen. Wegen sittlicher Vergehen, für die, so tief man sie verurteilen mag, geistig klare ‚Obrigkeiten’ den Arzt, nicht den Kerkermeister zur Heilung heranziehen werden. Doch gleichviel. Nicht um das Vergehen, noch um den Urteilsspruch handelt es sich hier, für uns geht es um Höheres: um die Selbsterhebung einer getretenen Seele. Oder, [um] bei Dante zu bleiben: um das helle Licht eines großen Herzens, das sich selber hinausleuchtet aus dem ‚finsteren Wald‘ zum ‚rechten Weg‘, zur ‚seligen Höhe‘.... ▪ [...] Spüren wir den Ursachen dieser wundersamen Erscheinung nach, die fast an die haß- und rachelose Lebensauffassung des Nazareners gemahnt. Zunächst ist hiernach nicht (und für den, der seine herrlichen Märchen kennt, ohnehin nicht) anzuzweifeln, daß Wilde im Grunde seines Herzens eine große und edle Natur war. [...] In diesen vor tiefer Bewegung zitternden, von inniger Schönheit leuchtenden Worten erscheint mir die Stelle von der ‚geheimen Schuld, die ich zu meiner Freude wahrscheinlich nie zurückzahlen kann‘, ohne gleichen! Diese ehrfürchtige Dankbarkeit, diese stille Seligkeit im reinen Danken ist so fein und herrlich, daß man nur den zarten Kelchgrund einer soeben erschlossenen Lilie ihr vergleichen kann, keuscher ist nicht der silberhelle Tautropfen in der Frühe, der über die jungfräuliche Knospe einer erwachenden Rose rollt. Von der ‚Bibel der Dankbarkeit‘ sprach dieser seltsamste aller Zuchthäusler einst in den Tagen seines Glücks. Er hat den schönsten Spruch dieser Bibel geschrieben. ▪▪▪ Indessen – gestehen wir uns unbeschadet unserer Rührung an dieser Stelle dies eine: um so zu erkennen, um auch das, was wir im folgenden noch näher betrachten werden, als Wahrheit einzusehen, mußte Oscar Wilde – fallen. Und, so hart es zunächst klingen mag, er durfte kaum weniger tief fallen, wenn diese Umkehr bei ihm eintreten sollte. Hatte er nicht von vornherein mit seiner Lebensschaluppe auf eine Klippe hinaus gesteuert? Wir finden den Schlüssel zu seinem Schicksal an einer Stelle des von tausend Schönheiten glitzernden Romans Das Bildnis Dorian Grays (der nur leider im letzten Drittel, etwa von S. 220 ab, merklich ermattet.) Da heißt es einmal: ‚Der einzige Weg, eine Versuchung loszuwerden, ist, daß man ihr nachgibt.‘ [Kap. 2] Dies freche und gefährliche Wort ist der Grundsatz einer animalischen Philosophie, keiner vernunftgemäßen, es ist so unsinnig wie, wenn jemand sagen wollte: das einzige Mittel, einen Feind zu besiegen, ist, daß man die Waffen streckt. Goethe, der keineswegs beansprucht, als Heiliger gepriesen zu werden, hat in Wilhelm Meisters Wanderjahren dies Problem, das sich natürlich auch auf rein geistige Dinge erstreckt, tiefsinnig genug behandelt, indem er die Arbeit und Entsagung als die ‚wichtigsten Lebensprinzipien‘ hinstellt. Entsagung heißt aber nach Goethe nicht nur Bezwingung der Leidenschaften, es heißt auch Verzicht auf vielfältige angeborene und erworbene Vorteile. Entsagung allein wandelt den Triebmenschen zum Vernunftmenschen; so tief greift sie in des Menschen Sein und Werden. [Albert Bielschowsky: Goethe. Sein Leben und seine Werke, 2. Bd., (München 1904), Kap. 18, S. 518.] Schärfer noch und fast als ob es mit gefeilter Spitze gegen die Auffassung im Dorian Gray gerichtet wäre, klingt ein Wort unseres großen Dramatikers Otto Ludwig: er nennt es ‚die unmoralischste Art von Sentimentalität, die es geben kann, seine eigene Erbärmlichkeit als etwas Großes, Edles zu fühlen, indem man allen schlechten Gelüsten nachgibt, sich als einen Märtyrer, wo man ein Weichling, sich als einen Helden zu fühlen, um eine Entschuldigung, ja einen Sporn zu haben, sich selbst alles nachzusehen.‘ [Shakespeare-Studien, ed. Moritz Heydrich, (Leipzig 1872), S. 172.] / Aber so hart dies Urteil Otto Ludwigs den englischen Dichter auf der Höhe seines Glücks auch trifft, so ruhig vermag der Gefallene in der Nacht des Kerkers vor ihm zu bestehen. Und hier liegt der Tiefpunkt unserer Betrachtungen. Oscar Wilde selber hat die treffendsten Worte der Erkenntnis für sein Schicksal gefunden und damit auch die Kraft, sich aus tiefstem Fall zu erheben. Er spricht von seinem Leben: es sei ‚ein Wahnsinn oder Krankheit oder beides‘ gewesen. ‚Ich vergaß‘, so lautet das ungemein richtige und wichtige Bekenntnis im Kerker, ‚ich vergaß, daß jede kleine Handlung des Alltags den Charakter prägt oder zerstört und daß man deshalb das, was man insgeheim im Zimmer getan hat, eines Tages mit lauter Stimme vom Dach herunter rufen müsse.‘ Folgen wir dem nachdenkenden Mann in der dunklen Einsamkeit seines Kerkerloches von hier aus weiter auf dem Wege der Erkenntnis zur Demut, wir werden – das versichere ich – nicht ohne tiefste Bewegung ihn begleiten. ‚Ich war nicht mehr der Steuermann meiner Seele und wußte es nicht ... Und das Ende war greuliche Schande. – Jetzt bleibt mir nur eins: völlige Demut. [...] Jetzt finde ich, tief verborgen in meinem Wesen, etwas, das mir sagt, nichts in der Welt sei ohne Bedeutung – am allerwenigsten das Leiden. Dieses Etwas, das tief in mir vergraben liegt, wie ein Schatz auf dem Felde, ist die Demut.‘ / ‚Sie ist das letzte in mir und das beste; das Ziel, an dem ich endlich angelangt bin; der Ausgangspunkt einer neuen Entwicklung. Ganz aus mir selbst heraus hat sie sich gebildet [...]. Sie ist das einzige, was Lebenskeime in sich birgt, Keime einer vita nuova ... Alles scheint mir ganz wertlos, wofern es nicht aus dem Innern stammt‘ ... – – – [14.02.05] [...] Durch die tiefsten Abgründe des Lebens mußte dieser leuchtende Geist erst wandern, um zu der letzten Weisheit des Apostels zu gelangen: ‚Und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein klingend Erz und eine tönende Schelle.‘ [...] Und wenn er aus dem Gefängnis kommt, so hofft er seine ‚Schaffenskraft neu schaffen zu können‘. Denn ach, so klagte er, ‚Die Perle meiner Seele warf ich in einen Becher Weins.‘ Nun aber findet er: ‚Das Leid ist das Zarteste in aller Schöpfung. Das Leid ist eine Wunde, die zu bluten anfängt, wenn eine andere Hand als die der Liebe daran rührt, und selbst dann von neuem bluten muß, wenn auch nicht vor Schmerz ... Wo Leid ist, da ist geweihte Erde ...‘ [...] Zu dieser Zartheit, dieser wahren Höflichkeit des Herzens ist er gekommen, seitdem er eine neue Welt vor sich aufgetan sieht. ‚Wollt ihr wissen, was diese neue Welt ist? Ihr könnt es wohl erraten. Es ist die Welt, in der ich die letzten zwei Jahre gelebt habe. Das Leid und alle Lehren, die wir ihm danken. [...] Jetzt sehe ich ein, daß der Schmerz als die edelste Regung, deren der Mensch fähig ist, gleichermaßen Urform und Prüfstein aller großen Kunst ist ... Der Schmerz ist der Endtyp, sowohl im Leben, wie in der Kunst. [...] Weit in der Ferne kann man, wie eine Perle sonder Fehl die Stadt Gottes sehen. Sie ist so wundervoll, daß man meinen möchte, ein Kind könnte sie an einem Sommertag erreichen.‘ ▪▪▪ II. Ein Zuchthäusler über Jesus. Zu dieser ‚Perle ohne Fehl‘, die er in weiter Ferne liegen sah, hatte den unglücklichen Gefangenen nach und nach seine innere Einkehr geführt. Wir sahen: sein einziger Trost in dem ungeheuren Leid, das er bis zur letzten Neige auskosten mußte, war bisher der gewesen: eine neue Quelle seiner Kunst zu finden. Aber noch eine andere Erquickung war ihm, wie wir jetzt finden werden, in der Einsamkeit der Kerkernacht gekommen: – das griechische Neue Testament, das man ihm selbst in der ersten schweren Zeit seiner Haft gelassen, hatte ihn der Person Christi näher gebracht, und je länger er sich mit dieser lieblichsten Gestalt, die je auf Erden gewandelt, in Gedanken beschäftigte, um so mehr kam die seelische Gewalt, die von dem Stifter der christlichen Religion ausgeht, über ihn und nahm ihn gefangen. Dies alles ist nicht so sehr in streng kirchlichem Sinne gemeint, als in ethisch-ästhetischem. Ich muß hier, um im folgenden recht verstanden zu werden, eine kleine Einschaltung machen, für die natürlich lediglich der mit seinem vollen Namen zeichnende Schriftsteller, nicht die Redaktion dieses Blattes den Lesern gegenüber verantwortlich bleibt: sie ist rein persönlich. Ich kann meinen Religionslehrern auf dem Gymnasium den leisen Vorwurf nicht ersparen, daß sie, vielleicht freilich, weil sie zu fest an ihren Lehrplan gebunden waren, mich innerlich dem Wesen Christi einigermaßen entfremdet haben. In den unteren Klassen hat man uns den Kopf mit Bibelsprüchen, in den oberen mit Kirchengeschichte vollgepfropft, dazwischen wurden die historischen Begebenheiten des Alten und Neuen Testaments analog dem Geschichtsunterricht eingepaukt; von Christus selber wurde immer nur aus einer gewissen Distanz gesprochen; eine innere Vermittlung zwischen ihm und dem Knabenherzen wurde nicht gesucht, nicht einmal gefunden. [...] Ich bekenne das, damit es denen, die es angeht (vielleicht den verehrten Herrn Minister für ‚Geistesbildung‘), zur Lehre diene, wie wenig ein kalt schematischer Religionsunterricht Zweck hat. Es ist möglich, daß ich gerade an Religionslehrern besonders schlechte Erfahrungen gemacht habe (an anderen Lehrern keineswegs!), aber ich erinnere mich, daß noch im Abiturientenexamen die Prüfung in Religion sich lediglich auf die Streitlehren der Kirchenväter und kirchengeschichtliche Daten bezog. Es lag also am System – kein Wunder, daß der Nichttheologe seinen Religionsunterricht bald vergessen hatte und es nicht einmal bedauert. Der große seelische Gehalt der christlichen Lehre wurde uns durch die vielen Hüllen und Hülsen theologischer Auslegungen und Unterlegungen auf der Schule so ungenießbar gemacht, daß man später nicht einmal davon hören mochte. (Wen’s angeht, wie gesagt, der merke es sich.) Erst in meinem dreißigsten Lebensjahr etwa bin ich auf eigenen Wegen dazu gekommen, der Erscheinung Christi mich innerlich wieder zu nähern und vertraut zu machen. [...] Christus künstlerisch und ethisch zu erfassen, wurde mir dann eine genußreiche Aufgabe, und die Studien und Betrachtungen, die ich vom Boden unserer Zeit aus in dieser Richtung machte, habe ich, wie sich ältere Rundschau-Leser noch erinnern werden, in der Abhandlung Jesus im Abendlichte des Jahrhunderts niedergelegt. [Nicht ermittelt, aber wahrscheinlich identisch (oder weitgehend identisch) mit dem so betitelten Kapitel in Streckers Sammlung Frühthau. Essais und Skizzen (Berlin 1898), 67-92.] Warum ich das erwähne? Wir werden finden, daß sich mancherlei Betrachtungen jenes Essays inhaltlich mit den von Oscar Wilde gefundenen decken, natürlich ohne ihre Schönheit zu erreichen. Denn es gehört dies Kapitel Oscar Wildes zum Schönsten, was in unserer Zeit nicht nur über Jesus gesagt worden ist. Wilde faßt ihn ganz als Künstler, als Romantiker. Das wird ihm auch der Theologe nicht verargen können, denn weshalb soll ein Edelstein, der nach allen Seiten hin Strahlen wirft, nicht wert sein, auch von allen Seiten in seinem Glanz bewundert zu werden? Freilich erfüllt Wilde sein Thema nicht. Er läßt mancherlei Lücken, ja an vielem, das gerade für seine Art der Betrachtung von hoher Wichtigkeit ist, geht er achtlos vorüber. Ich werde versuchen, das zu beweisen, um so, wenn auch nur andeutungsweise, die Linien zu ziehen, die das Thema Christus als Künstler erweitern. Vielleicht findet sich einmal später Zeit und Sporn, das ebenso anziehende wie bedeutende Thema aufzuarbeiten. – – – [15.02.05] Folgen wir zunächst aufmerksam den feinen und innigen Betrachtungen unseres Zuchthäuslers. Einst, ‚als sich das Leid noch nicht seiner Tage bemächtigt hatte,‘ schrieb Wilde in der Seele des Menschen – und dieser Gedanke erfüllt ihn jetzt mit großer Freude –: ‚Wer ein Christus ähnliches Leben führen wolle, müsse ganz und gar er selbst sein‘; als Beispiel führte er nicht nur den Schäfer auf der Heide und den Gefangenen in seiner Zelle an, sondern auch den Maler, dem die Welt ein Mummenschanz, und den Dichter, dem die Welt ein Lied sei. Damals schon erkannte er, daß alles, was Christus sagt, sich ohne weiteres auf das Gebiet der Kunst übertragen lasse und hier seine vollkommene Erfüllung findet. Jetzt empfindet er: ‚Die Grundlage in Christi Wesen war dieselbe, die das Wesen eines Künstlers ausmacht: eine starke, lodernde Phantasie. [...] Fürwahr, Christus gehört unter die Dichter. Seine ganze Auffassung von der Menschheit entsprang geradewegs der Phantasie und kann nur von ihr begriffen werden. [...] Ich hatte gesagt: er zählt zu den Dichtern. Das ist so ... Doch auch sein ganzes Leben ist das wundervollste Gedicht. [...]‘ Diese Optik des Künstlers gegenüber der Erscheinung Christi ist gewiß so berechtigt und schön als wahr. [...] – – – [16.02.05] Zwei Pläne tauchen im Verfolg dieser aus edlem Material mit feiner Goldschmiedekunst ziselierten Gedanken dem Dichter in seiner vom Geist erhellten Kerkernacht auf: er will über zwei Themen schreiben, das eine: ‚Christus als Vorläufer der romantischen Bewegung im Leben‘, das andere: ‚Künstlerleben und Lebenskunst‘. [...] ▪ Soweit Oscar Wildes hohe und gipfelklare Gedanken über Christus. In ihrer goldreinen Prägung durchaus neu, sind sie es inhaltlich nicht immer; wennschon die Zahl bisher unentdeckter Wahrheiten darin groß genug ist. Weniges läßt sich bestreiten, manches ergänzen. Christus rein künstlerisch, als Dichter aufzufassen lockt nicht minder als: sein Leben selbst wie ein wunderreiches Gedicht zu betrachten. Goethe hat meines Wissens zuerst die Sendung Christi als Kunstwerk gefaßt, er sieht das Thema ‚Erlösung‘ wie im Aufbau eines Dramas artistisch so durchgeführt (Eckermann III): im Pentateuch die Darstellung des Bedürfnisses nach Erlösung; in den Propheten Steigerung: den wiederholten Hinweis auf den erwarteten Erlöser; in den Evangelien die Erfüllung der Erlösung durch den Kreuzestod [11.03.1832]. Christi Leben selber rein poetisch aufzufassen liegt nahe genug, und Wilde hätte das Thema leicht folgerichtig durchführen können. [...] / Es ist ein lieblich Tun, das Thema: Christus als Künstler, als Genie weiterzuspinnen. [...] / Man sieht: die Fragmente der Wildeʼschen Jesusbetrachtung ließen sich leicht zu einem Gebäude ergänzen. [...] ▪ Nicht ohne einen leisen melancholischen Schauer kann man diesen wehmütig-hoffnungsvollen Ausklang der tiefsinnigen Betrachtungen lesen. Es sollte anders kommen. Bei Sherard steht es geschrieben, wie der Schlag, der den Dichter getroffen hatte, tödlich war, wie Wilde, äußerlich scheinbar der Alte, langsam innerlich verblutete und sein langer Todeskampf schon begann, als er das Gefängnis verließ ... / Man könnte sich mit der deterministischen Weltauslegung trösten, daß er in dieser hinreißenden, unvergleichlich tiefen Dichtung, die er schlicht Aufzeichnungen nennt, sein Bestes gegeben hat, daß die Natur nichts mehr von ihm verlangte und ihn darum fallen ließ. Es ist die Anschauung keines Geringeren als Goethe, der in seinen Gesprächen [mit Eckermann] einmal sagt: ‚Der Mensch muß wieder ruiniert werden! Jeder außerordentliche Mensch hat eine gewisse Sendung, die er zu vollführen berufen ist. Hat er sie vollbracht, so ist er auf Erden in dieser Gestalt nicht weiter vonnöten, und die Vorsehung verwendet ihn wieder zu etwas anderem. Da aber hienieden alles auf natürlichem Wege geschieht, so stellen ihm die Dämonen ein Bein nach dem andern, bis er zuletzt unterliegt.‘ Goethe führt das am Beispiel der jung gestorbenen Genien Alexander, Napoleon, Mozart, Byron durch und fährt fort: ‚Alle aber hatten ihre Mission auf das vollkommenste erfüllt, und es war wohl Zeit, daß sie gingen, damit auch anderen Leuten in dieser auf eine lange Dauer berechneten Welt noch etwas zu tun übrig bleibe‘ [11.03.1828]. / So war es auch wohl für den unglücklichen Oscar Wilde Zeit, daß er ging ... Nun denn, jetzt hat er alles gesühnt! Und wir rufen ihm, von der Erschütterung, die seine unbeschreibliche Tragödie jedem Empfindenden bringen muß, den Blick zu den Gesetzen des Weltganzen erhebend, die Worte Carlyles nach, die er in seiner Französischen Revolution den schlimmen Geistern eines Marat und Genossen ins Grab nachsendet: ‚Schlaft alle wohl im Schoß der Erde, die unser aller Mutter ist.‘ [Teil III, Buch 4, 1. Kap. (‚Charlotte Corday‘)] ▪ ... Von einem Buch wollte ich sprechen, das man als Seelenenthüllung einst vielleicht über alle Bücher unseres Kulturalters stellen wird. Groß ist sein ethischer Ernst, größer seine Wahrhaftigkeit, leuchtend und blühend sein Stil, herzaufwühlend seine Klage, zu Tränen versöhnend sein Schmerz und seines Schmerzes Echtheit. Wer Ohren hat, der höre! ▪ Ihm aber, dem zartsinnigen Schönheitsträumer, der, von seinem Vaterlande verfemt, unter Schmerzen der Seele zusammenbrach und aus der Tiefe seiner Nacht diese versteinerten Tränen als glänzende ‚Perlen ohne Fehl‘ ins Licht emportrug – ihm lege man, nun der Frühling kommt, die ersten Schneeglöckchen aufs Grab und bunte Muscheln dazu, die er so liebte. ‚Schlaf wohl auch Du, Unglücklicher, im Schoß der Erde, die unser aller Mutter ist.‘“ ● Karl Strecker (1862 – 1933) war ein Romancier und Dramatiker sowie Theaterkritiker der Berliner Täglichen Rundschau.

Hans Land, ‚De profundis‘, Königlich privilegierte Zeitung [später Vossische Zeitung] (Berlin), 17.02.1905, Nr. 81, 3. Beilage: „Über Oscar Wildes schmerzenreiche Tragödie sind dem deutschen Publikum zwei wertvolle Kommentare dargebracht worden. Ein naher Freund des Dichters, Robert Harborough Sherard, hat ein Erinnerungswerk an Wilde unter dem ungeschickten Titel Geschichte einer unglücklichen Freundschaft herausgegeben [1903], und Max Meyerfeld hat die Aufzeichnungen, welche Wilde im Zuchthause zu Reading niederschrieb, musterhaft ins Deutsche übertragen. Aus dem klassischen Werke Wildes, das, in der Zuchthauszelle entstanden, den ganzen Glanz dieses erlauchten Geistes wiederstrahlt und der ungleich bescheideneren Erinnerungsschrift seines nahen Freundes, möchte ich einige Charakterzüge zusammenstellen, welche das Bild des unglücklichen Dichters, dessen Salome bei uns ein beträchtliches Publikum fand, in ein klärendes Licht rücken. / [...] Wildes äußere Schicksale sind bekannt. Man weiß von ihm allgemein, daß er der Löwe der Londoner Gesellschaft war, daß er durch Geburt, äußere Schönheit, enorme künstlerische und materielle Erfolge in den höchsten Schichten als ein vom Glücke Meistbegünstigter glanzvoll lebte und daß er sich dann eines Tages in eine Skandalgeschichte verwickelte, auf Grund von Verirrungen, die der bei uns [in] letzter Zeit nur zu aktuelle § 175 des deutschen Strafgesetzbuches gleichwie das englische Recht mit Zuchthaus bestraft. [...] Und nun folgen zwei furchtbare Jahre peinvollster Kerkerhaft. Die Barbarei des englischen Strafvollzuges sperrte den Ästheten mit den überfeinen Nerven, ihn, das Schönheitskind, dem jede Häßlichkeit zur unerträglichen Pein ward, in eine Art Kaninchenstall, über den ein Drahtgitter genagelt war. Auf den Knien liegend, mußte er, der ‚den Goldbrokat des Dorian Gray‘ mit feinen Fingern gewoben, die Zelle aufwischen, Säcke flicken, Werg zupfen, bis seine Nägel bluteten. [...] Als ein humanerer Direktor die Leitung des Zuchthauses dann übernahm, erhielt der Dichter auf seinen Wunsch die Evangelien in griechischer Sprache und endlich – endlich – Feder und Papier. Jetzt schrieb er seine Bekenntnisse De profundis, die, verdeutscht und eingeleitet von Max Meyerfeld, zuerst in der Neuen Rundschau erschienen und die uns der Verlag S. Fischer jetzt in der Buchausgabe vermittelt. Er gab da nächst einer wundersamen, von Sprachschönheit strahlenden Analyse seiner Seelenzustände ein geradezu hinreißendes Bild Christi, wie er ihn verstand und wie er ihm verständlich wurde in den Prüfungen seiner eigenen bitteren Leiden. Das Erhebende dieser Bekenntnisschrift liegt aber wohl vornehmlich darin, daß hier ein namenlos hartes Schicksal, das über einen Liebling des Glücks wie ein Ungewitter hereinbricht, einen Menschen aus Abgründen der Verzweiflung emporläutert zu einem ergebenen und demütigen Weisen, der, was ihm geschieht, zwar als hart beklagt, aber nicht als unverdient, der sich in nichts freispricht von seiner Schuld, nein, der unerbittlich mit sich ins Gericht geht und über sich den Stab bricht. Aus Abgründen der Verzweiflung strebt er mit Heldenkraft hinauf zu den Höhen der Läuterung und Verklärung. Das Herrlichste aber an diesem Dulder ist, daß seine eigenen Leiden ihm verschwinden vor den Leiden der anderen, denn seine Klagen und seine Anklagen richten sich nicht gegen das, was englische Gefängnisse an ihm gesündigt, sondern gegen das, was sie an anderen tun, besonders gegen die Frevel, die sie an Kindern verüben. Hiergegen hat Wilde flammenden Protest erhoben, er, der doch selbst, ein unglückseliger Atlas, eine Welt von Schmerzen hat tragen müssen. Aber das ist das Erlöserhafte an diesem Büßer, daß die Qualen der anderen ihn schärfer peinigten, als die eigenen. So ward er durch Leiden ein Großer. Hätte er nichts hinterlassen, als seine schönen Werke, wir würden ihn nur bewundern können, um seines Leidens willen aber müssen wir ihn von ganzem Herzen lieben. / Wilde verließ das Zuchthaus, den Todeskeim im Herzen, und starb kurze Jahre darauf arm und verlassen in der Fremde.“ ● Hans Land war ein Pseudonym des Journalisten, Essayisten, Romanschriftstellers und Herausgebers Hugo Landsberger (1861 – 1938).

Eduard von Keyserling, ‚De Profundis‘, Freistatt. Süddeutsche Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst (München), 04.03.1905 (Jg. 7, Nr. 9), 138-140: „Gottfried Keller sagt von dem Dichter: ‚– wer in einem festlichen Zuge mitzieht, kann denselben nicht so beschreiben wie der, welcher am Wege steht. Dieser ist deshalb nicht überflüssig und müßig, und der Seher ist erst das ganze Leben des Gesehenen –‘ [Der grüne Heinrich, Teil III, 1. Kap.]. Allein, es hat immer Dichter gegeben, die zugleich im Zuge mitgingen und als Seher am Wege standen, für die der Festzug nur deshalb Bedeutung hatte, weil sie selbst mit dabei waren, die sich im Festzuge mit sehen wollten. Byron war von diesem Geschlechte, die Romantiker. Sie dichten ihr Leben, sie leben, um dieses Leben künstlerisch zu spiegeln. Das Leben ist für sie eine Vorarbeit, ein Brouillon [Entwurf] ihrer Dichtung. Oscar Wilde war der Künstler, der neben dem eignen Leben steht, zuschaut, und schafft, der es als Dichtung genießen will. [...] Für ihn mußte dieses Leben ganz reich, ganz voll sein. Alle Genüsse, Reize, Leidenschaften mußten hinein. Die Neugierde des Künstlers trieb sein Leben in die gefährlichsten Tiefen hinabzusteigen und nach neuen Sensationen zu suchen, neue Schätze von Empfindungen und Gefühlsoffenbarungen hervorzuholen. [...] All das mußte in Wildes Leben hinein, so wüst und wild es war, aber er stellte es unter die strenge Zucht der Schönheit, es sollte nie vergessen, daß es für den ‚Seher‘ neben ihm arbeitete und daß es diesem nur auf Schönheit ankam. ‚Die Kunst behandelte ich als die oberste Wirklichkeit. Das Leben war mir ein Zweig der Dichtkunst‘, sagt er. Dieser unermüdliche Genießer wollte doppelten Genuß. Er wollte sein Leben noch einmal, geschmückt und verschönt, in seiner Kunst genießen. [...] ▪ Als nun eine fremde Macht über dieses Leben kam, um es bis zum Rande mit allem Gemeinen, Häßlichen, Schmerzhaften zu füllen, was tat da der Künstler, der aufmerksam daneben stand? Der Spiegel, der bisher die Farben der Feste des Lebens widerspiegelte, war nun voll des Entsetzlichen und Ekelerregenden. Es war eine Herausforderung des Schicksals an den Dichter, der über die Wirklichkeit herrschen, Wirklichkeit zur Kunst machen wollte. Was tust du nun? Kannst du auch das zu Kunst und Schönheit machen? Und der Dichter nahm all diese Bitternis und Häßlichkeit und konnte – mußte daraus Kunst machen. Früher genoß der Dichter den Glanz seines Lebens doppelt, jetzt mußte er seine Schmerzen doppelt erleben. Jetzt wurde der gehaßte, der verachtete, verspottete Wilde, der Wilde, in lächerlicher Gefängniskleidung, der Stricke zupfte und seine Zelle scheuerte, der Held seiner Kunst. An ihm mußte er dichten. Und als er das konnte, wurde es zum einzigen Glück der trostlosen Jahre: ‚die Darstellungsgabe ist für den Dichter die höchste und einzige Lebensform‘, schreibt er. / Wildes Aufzeichnungen im Zuchthause von Reading sind kein Tagebuch, keine Memoiren oder Bekenntnisse, sie sind ein Kunstwerk, folgerichtig und klar in Aufbau und Komposition. Nicht berichten, gestalten will er. Die Geschichte dieser großen Seele in Not wird als Vision vor uns hingestellt, mit jener farbigen Notwendigkeit, die das Mittel ist, durch das Kunst uns die heimlichsten Dinge des Menschenlebens unmittelbar verstehen läßt. Mit unheimlicher Deutlichkeit sieht er die Zuckungen seines Schmerzes und verklärt sie zur Dichtung. Was konnte er in seiner Zelle anders erleben als sich und seinen Schmerz. Er fand die Worte ‚für das purpurne Schauspiel seines Wehs‘ und schuf ein in seiner Art in der Weltliteratur einziges Epos des Schmerzes. ▪ [...] Und nun beginnt er ein hohes Lied auf den Schmerz zu singen, ihn zu schmücken, zu verklären, ihn leidenschaftlich zu lieben. [...] Die Sehnsucht aber des Gehaßten, Verachteten, Ausgestoßenen ist die Liebe. Er braucht die Vision einer Liebe, die eine Welt von Trübsal geschaffen hat, um zu trösten, um ‚zu ihrem ganzen Leben zu wachsen‘. Sie ist der einzige Freund für das Dasein des Schmerzes. / Schmerz und Liebe sind jetzt die Welt des Gefangenen. Aber der Dichter will gestalten. Er bedarf eines Symbols, einer Gestalt für die beiden Mächte, die für ihn jetzt die einzigen der Welt sind, die Bedeutung haben. Sich selbst konnte er dazu noch nicht gebrauchen. Er mußte eine Gestalt haben, der er in Zukunft gleichen wollte, sollte er weiter leben können. Diese Gestalt ist Christus. Wilde sieht einen Christus nach seinem Herzen, der Künstler, Dichter, ein Bruder von Shelley und Sophokles ist, der ‚ganz ein Kunstwerk‘ ist, der ‚die Schönheit des Schmerzes und der Sünde‘ liebt, den ‚Sünder liebt als die Vorstufe der Vollkommenheit‘ – ‚die Häßlichkeit der Sünde von ihm nimmt und ihm die Schönheit seines Leidens offenbart‘ – ‚der Leid und Schönheit verschmilzt‘. Alle Erkenntnis und alle Sehnsucht, die sein Unglück ihn gelehrt, verkörperte Wilde in dieser Gestalt. Nur in einer Welt, wie dieser Christus sie will und sieht, konnte der unglückliche Dichter auf ein Glück hoffen. [...] Er hatte sich einen Christus erdichtet, dem er einst gleichen zu können hoffte, einst, wenn ‚die letzte Phase seines Lebens, die wie ein Freund auf ihn wartete‘, gekommen, wenn seine vita nuova begonnen haben würde. Er durchdringt sich mit der Seele seines Christus und nun glaubt er leben zu können, ja er freut sich auf das Leben. Er sieht sich geläutert, genesen, gewachsen, unendlich verzeihend und verstehend in die Welt hinaustreten, die ihn verachtet. [...] Hat er von den Menschen nichts zu hoffen, so hofft er auf die Natur, die ewig Unparteiische. Er sehnt sich nach den großen Urformen wie das Meer. [...] Mit in großen Schmerzen und großem Verstehen beruhigter Seele will er die große Beruhigung der Natur genießen. [...] ▪ Der Dichter hatte die Tragödie seiner Seele bis zu Ende gedichtet, bis zu dem Ende, das versöhnt und löst. Die Wirklichkeit vermochte mit der Dichtung nicht schrittzuhalten. Wilde hatte es verstanden, sein Leben in seinen Dichtertraum emporzuheben. Jetzt sollte das Leben sich nach dem Dichtertraum richten. Das vermochte es nicht. Der Dichter hatte den Wilde jenseits der Gefängnismauern vorweggenommen, mit allem Schmerz und allem Trost, mit dem Glück des Büßenden und Erlösten. Als sie nun kam diese Wirklichkeit jenseits der Gefängnismauer, wie sollte sie neben den Farben des Traumes nicht blaß und kalt erscheinen? Sie ließ sich nicht mehr zum Kunstwerk machen, wie das Elend der Zuchthauszelle.“ ● Eduard von Keyserling (1855 – 1918) war ein Roman-, Novellen- und Theaterschriftsteller von baltischer Herkunft.

O[skar] B[ulle], ‚Das De profundis eines Ästhethen‘, Beilage zur Allgemeinen Zeitung (München), Nr. 54, 05.03.1905, 425-429: „Ob Oscar Wilde selbst die ersten Worte des großen Bußpsalms [Nr. 130] seiner Epistola in carcere et vinculis als Titel vorausgesetzt hat, geht aus der posthumen Veröffentlichung dieses vor nunmehr acht Jahren im Zuchthause von Reading niedergeschriebenen Selbstbekenntnisses nicht hervor. Es scheint nicht so. In dem Begleitschreiben, mit dem der Dichter kurz vor Ablauf seiner Zuchthausstrafe seinem Freunde und literarischen Testamentsvollstrecker Robert Ross das Manuskript übersandte, ist dieses ‚einzige Dokument, das wirklich Aufschluß über mein außergewöhnliches Verhalten gibt‘, noch unbetitelt. Es ist einfach als ‚ein Brief‘ bezeichnet, in dem die psychologische Erklärung für des unglücklichen Dichters Betragen der Welt gegeben werden soll. [...] / Also ein Rechtfertigungsversuch auf Grund einer Analyse psychologischer Vorgänge und ein Dokument der geistigen Entwicklung, die der Dichter im Zuchthause erlebt hat – aber durchaus nichts von einem Bußpsalm, dessen klägliche Töne aus dem Titel herausklingen. Das muß von vornherein betont werden, denn es wäre durchaus falsch, an diese außerordentlich merkwürdigen und ästhetisch überaus feinen Aufzeichnungen Oscar Wildes mit dem Vorbegriffe heranzutreten, daß sie der seelischen Aschermittwochstimmung eines ‚Bekehrten‘, dem echten Gefühle eines Reumütigen entstammen. Das ganze Leben Wildes nach seiner Entlassung aus dem Zuchthause, sein trauriges geistiges Dahinsiechen in Paris unter den vergeblichen Versuchen, einen Schimmer des verlorenen Glanzes wieder zu erwecken, würde dem widersprechen. Der Dichter des Dorian Gray hatte die Vita Nuova, von der er in seiner Readinger Selbstanalyse so gern und wie mit einer inneren Sehnsucht spricht, nicht wirklich erlebt; er ist gebrochen, gänzlich zerstört an Körper und Geist aus den traurigen Mauern des Zuchthauses hervorgegangen, und suchte vergeblich in der kurzen Zeit, die zu leben ihm noch beschieden war, alle blendenden Gaben seines Genies zu einer ‚Schlußnummer des prasselnden Feuerwerkes‘ zusammenzuraffen. Hätte das wohl ein wirklich ‚Bekehrter‘, ein wirklich zu einem neuen Leben Erweckter getan? ▪ In dem aus der leuchtendsten Zeit seines intellektuellen Mutwillens stammenden Dialoge Der Verfall des Lügens läßt Wilde seinen Vivian – der er selbst ist – sagen: ‚Ich bin bereit, alles zu beweisen‘; und in der Tat besteht ein großer Teil seiner schriftstellerischen Kunst in der blendenden Dialektik, mit der er auch die größten Paradoxe als Wahrheiten hinzustellen weiß. Hierin liegt der Zauber nicht nur seines Stils, sondern auch seiner Gedankengänge. Wir fühlen uns von der faszinierenden Art, mit der er die Begriffe wie Spielbälle hin und her wirft, für den Augenblick geblendet, nie jedoch überzeugt. Es ist dem Schriftsteller nicht um die Wahrheit zu tun, sondern um das Spiel mit der Wahrheit; er selbst glaubt nicht an das, was er beweisen will; er ist der Skeptiker aus Grundsatz, weil er nur an die Existenz des Ausdrucks, an die Realität der Form glaubt; die Dinge und Begriffe sind für ihn nur wechselreiche, willkürliche Bestandteile der allein wesenhaften Kunst. So konnte er auch in der Gerichtsverhandlung, die ihn ins Zuchthaus brachte, dem Richter sagen, daß er das, was er schreibe, selten für wahr halte, und mit ironischem Lächeln hinzufügen: ‚Ich hätte auch sagen können: nie!‘ Nicht was er sagte, hielt er für wahr, sondern wie er es sagte; das allein hatte für ihn Bedeutung, wenn auch immer nur augenblickliche Bedeutung. Darin bestand für ihn das Wesen der Kunst. ‚Genauso,‘ sagt er in seinen Readinger Aufzeichnungen, ‚wie man sich in der Kunst nur damit abgibt, was einem ein besonderer Gegenstand in einem besonderen Moment ist, verhält es sich mit der ethischen Entwicklung des Charakters.‘ Und an einer anderen Stelle derselben Schrift heißt es: ‚In jedem einzelnen Moment seines Lebens ist man das, was man sein wird, nicht minder als das, was man gewesen ist. Die Kunst ist ein Symbol, denn der Mensch ist ein Symbol. – Kann ich ganz dahin gelangen, so ist es die letzte und höchste Verwirklichung des Künstlerlebens. Denn das Künstlerleben ist einfach Selbstentwicklung.‘ / Selbstentwicklung! – unter diesem Gesichtspunkte betrachtet er, während er im Zuchthause seine Rechtfertigungsschrift niederschreibt, seinen gegenwärtigen schaurigen Lebenszustand. Es ist nicht Reue, die ihn über sich selbst ergreift; es ist bei weitem mehr, und fast allein, die künstlerische Neugier, die ihn zur Erforschung und Darstellung der mit innerer Notwendigkeit fortschreitenden Entwicklung in seinem Lebensgange antreibt. Nur die Wut, daß die Tragödie in seinem Leben ein groteskes Element in sich schließt, rührt sein künstlerisches Gewissen auf. [...] Also Scham über die eigene Dummheit, nicht Reue über die Haltlosigkeit seines inneren Menschen, die ihn zum schrecklichen Sturze von den Lebenshöhen in die traurigste Tiefe führte. Täglich ist der Gedanke an diese ‚Kopflosigkeit‘ für ihn ‚eine Quelle geistiger Erniedrigung‘. Und lediglich aus dieser Quelle stammt die Demut, von der er auf den ersten Seiten seiner Rechtfertigungsschrift in wunderbaren Worten spricht. Es ist nicht eine Demut des Herzens, sondern allein das Gefühl der künstlerischen Demütigung. Das ‚Kunstwerk‘ seines Lebens hat einen Sprung bekommen, das ist sein Gram. Es fehlt ihm an dem Sinn für andere Schädigungen der menschlichen Natur. / Diese künstlerische Demütigung aber, die er erlitten, ist für ihn der Anlaß zu der stetig in jener Gefängniseinsamkeit in ihm bohrenden Frage: wie konnte es nur kommen, daß das Kunstwerk meines Lebens so zerfallen, so in Stücke brechen konnte? [...] Die Antwort lag für ihn, den künstlerischen Dialektiker, auf der Hand: Seinem Leben fehlte bis dahin noch ein notwendiges Element, um ein volles Kunstwerk zu werden, es fehlte ihm das Leid. ‚Vor mir,‘ so ruft er aus, ‚liegt so viel, daß ich es als eine schreckliche Tragödie betrachten würde, wenn ich sterben müßte, ehe es mir verstattet wäre, wenigstens einen Teil davon durchzuführen. Ich sehe neue Entwicklungsmöglichkeiten in der Kunst und im Leben, von denen jede ein neuer Weg zur Vollendung ist. Ich sehne mich nach dem Leben, damit ich erforschen kann, was jetzt so gut wie eine neue Welt für mich ist. – Wollt ihr wissen, was diese neue Welt ist? Ihr könnt es wohl erraten. Es ist die Welt, in der ich die letzten zwei Jahre gelebt habe. Das Leid und alle Lehren, die wir ihm danken, das ist meine neue Welt! [...] Jetzt sehe ich ein, daß der Schmerz als die edelste Regung, deren der Mensch fähig ist, gleichsam Urform und Prüfstein aller großen Kunst ist.‘ / Dieses neue Leben aber, das er nun in der Zelle des Zuchthauses in sich erblühen fühlt, ist ihm natürlich überhaupt kein neues Leben, sondern einfach vermittels der Entwicklung die Fortsetzung und Evolution seines früheren Daseins. Dies begründet er durch die folgende Erzählung: ‚Als ich in Oxford war, sagte ich eines Morgens – in dem Jahr, ehe ich promovierte – zu einem meiner Freunde, mit dem ich auf den engen, von Vögeln umschwärmten Wegen in der Umgebung von Magdalen College umherwandelte, es gelüste mich, von der Frucht aller Bäume im Garten der Welt zu essen; mit dieser Leidenschaft im Herzen träte ich in die Welt hinaus. Und so, auf mein Wort, trat ich hinaus und so lebte ich. Mein einziger Fehler war, daß ich mich so ausschließlich auf die Bäume beschränkte, die in dem scheinbar von der Sonne vergoldeten Teil des Gartens standen, während ich den anderen Teil mit seinem Schatten und seiner Düsterheit mied. Mißerfolg, Schande, Armut, Sorge, Verzweiflung, Leid, selbst Tränen, die Worte, die des Schmerzes Lippen stammeln, die Reue, die Dornen auf unseren Pfad streut, das Gewissen, das verdammt, die Selbsterniedrigung, die straft, das Elend, das Asche auf sein Haupt gießt, die Seelenpein, die sich in Sackleinwand kleidet und Galle in ihr eigenes Getränk mischt: – all dem wich ich ängstlich aus. Und da ich beschlossen hatte, nichts davon zu wollen, so wurde ich gezwungen, sie alle der Reihe nach zu kosten, mich von ihnen zu nähren, eine Zeit lang auf jede andere Speise zu verzichten. – Keinen Augenblick bedaure ich, dem Vergnügen gelebt zu haben. Ich tat es bis zum Rande, wie man alles, was man tut, bis zum Rande tun soll. Es gab kein Vergnügen, das ich nicht genossen. Die Perle meiner Seele warf ich in einen Becher Weins. Unter dem Klang der Flöten schritt ich den Blumenpfad hinab. Ich lebte von Honig. Aber es wäre falsch gewesen, dieses Leben fortzusetzen, weil es einseitig gewesen wäre. Es zog mich weiter. Auch die andere Seite des Gartens hatte ihre Geheimnisse für mich.‘ / ‚Es zog mich weiter,‘ heißt es hier; aber wenige Zeilen vorher sagt der Dichter von sich, ‚so wurde ich gezwungen‘. In dieser Diskrepanz, so meine ich, liegt das Groteske in der Tragik seines Lebens, liegt der Zerfall des Kunstwerkes begründet, als welches Oscar Wilde auch noch in dem tiefsten Elend sein Leben konstruierend vor sich hinstellt. Denn daß er nicht freiwillig von dem sonnigen Blumenpfade hinüber zu der Schattenseite schritt, daß er sich durch seine ‚Kopflosigkeit‘, durch die Narrheit im Genießen hinüberreißen lassen mußte, läßt das innerliche Kunstvolle in seinem Lebensaufbau als Illusion erscheinen. Er muß sich selbst eingestehen, daß die Evolution in seinem Leben nicht geradlinig sich vollzieht, daß ein tiefer Sprung in seinem Kunstwerke klafft. Und zwar durch eigene Schuld. ‚Ich habe mich selbst zugrunde gerichtet,‘ so ruft er noch stolz gegenüber der Schmach aus, die sich auf ihn türmt: ‚Niemand, ob hoch, ob niedrig, kann von einer anderen Hand als von seiner eigenen vernichtet werden. Zu diesem Bekenntnis bin ich gern bereit. Ich versuche, es abzulegen, mag man es mir auch gegenwärtig nicht zutrauen. Habe ich diese unbarmherzige Klage erhoben, so soll man bedenken: es war eine Klage, die ich ohne Erbarmen gegen mich selbst erhoben habe. So Schreckliches mir auch die Welt angetan hat: ich habe weit Schrecklicheres an mir selbst getan. [...] Die Götter hatten mir fast alles verliehen.  Ich besaß Genie, einen erlauchten Namen, eine hohe soziale Stellung, Ruhm, Glanz und intellektuellen Wagemut [...]. Daneben hatte ich noch manches andere. Ich ließ mich von dem bleibenden Zauber eines sinnlosen, sinnlichen Wohlbehagens verlocken. Ich belustigte mich damit, ein Flaneur, ein Dandy, ein Modeheld zu sein. Ich umgab mich mit kleinen Naturen und niedrigen Geschöpfen. Ich ward zum Verschwender meines eigenen Genies und fand seltsames Wohlgefallen daran, eine ewige Jugend zu vergeuden. Ich war es müde geworden, auf den Höhen zu wandeln – da stieg ich aus freien Stücken in die Tiefen hinab und fahndete nach neuen Reizen. Was mir das Paradoxe in der Sphäre des Denkens war, wurde mir das Perverse im Bereich der Leidenschaft. Die Begierde ward schließlich eine Krankheit oder Wahnsinn oder beides. Das Leben anderer galt mir nichts mehr. Ich befriedigte meine Lust, wann es mir beliebte und schritt fürbaß. Ich vergaß, daß jede kleine Handlung des Alltags den Charakter prägt oder zerstört und daß man deshalb das, was man insgeheim im Zimmer getan hat, eines Tages mit lauter Stimme vom Dach herunter rufen müsse. Ich verlor die Herrschaft über mich selbst. Ich war nicht mehr der Steuermann meiner Seele und wußte es nicht. Und das Ende war die greuliche Schande.‘ ▪ Welch seltsame Mischung von Wahrheit und Unwahrheit liegt doch in dieser prometheisch stolzen Selbstanklage. Der Dichter will der Herr seines Geschickes, der Schöpfer des Kunstwerkes, das sich sein Leben nannte, gewesen sein, und doch verlor er die Herrschaft über sich selbst. Er will aus freien Stücken in die Tiefen des Lebens gestiegen sein und gesteht doch zu, daß er sich vom Vergnügen ins Joch zwingen ließ. Das ganze Hohle, Wesenlose seiner Dialektik ist aus dieser Selbstanklage zu erkennen, und hohl und wesenlos ist deshalb auch die Deklamation, daß nun sein Leben durch die Bereicherung durch das Leid erst die künstlerische Vollendung gefunden habe. Warum denn dann klagen über das von der ungerechten Welt und von der eigenen Maßlosigkeit ihm Widerfahrene, wenn das Leid im Grunde seine höchste lebenskünstlerische Freude bedeutet? An dieser Antithese strauchelt seine ganze Darlegung. ‚Das Leid ist das Zarteste in der ganzen Schöpfung,‘ ruft er aus. ‚Es gibt nichts in der ganzen geistigen Welt, an das der Schmerz mit seinem schrecklichen, aber überaus feinen Pulsschlag nicht heranreichte... Wo Leid ist, da ist geweihte Erde. Eines Tages wird die Menschheit begreifen, was das heißt. Vorher weiß sie nichts vom Leben.‘ Das gilt wohl von unverschuldetem Leid, aber wo die Schuld, die größte Leidesbringerin, mit auf den Plan tritt, versagt diese geistvolle Dialektik. Und um diesen Punkt kommt auch Wilde in allen seinen Ausführungen über die Notwendigkeit des Leides für die künstlerische Vollendung des Lebens nicht herum. [...] / Allem will er entsagen, was er sein eigen nennt, also auch dem lebenskünstlerischen Selbstgefühl, dem Bewußtsein, aus sich selbst heraus das Kunstwerk des Lebens zur Vollendung zu führen, wenn auch nur auf dem Wege durch das Leiden hindurch. Eine seltsame Mischung von ethischer Resignation und ästhetischer Lebensauffassung tritt in diesen Ausführungen zutage. Er weiß, daß mit der Empfindung von der großen Bedeutung des Leides für die vollkommene Entwicklung des Lebens seine Aufgabe noch nicht erfüllt ist; er sieht weit steilere Höhen noch vor sich [...]. Und er fängt wieder an zu hoffen. ‚Vielleicht dringt auch in meine Kunst, nicht minder als in mein Leben, eine noch tiefere Note ein, eine Note von größerer Einheitlichkeit der Leidenschaften und stärkerer Unmittelbarkeit.‘ Er will, wenn er wieder frei ist, zur Natur zurückkehren, die er als Vivian in dem Dialog Der Verfall des Lügens doch als unkünstlerisch in ihrem Wesen beiseite geworfen. ‚Wer könnte mit Freiheit, Blumen, Büchern und dem Mond nicht ganz glücklich sein?‘ An das Meer, das allbelebende, an einen weltentlegenen Strand will er sich setzen und ein neues, ein hohes Kunstwerk zu schaffen versuchen. Ja, zu schaffen! Denn nur im Schaffen kann er völlige Genesung, wahre Vollendung finden. Und die Natur ‚wird mich in großen Wässern entsühnen und mit bitteren Kräutern heilen.‘ ▪ Träume eines Gefangenen! Der erste Schritt in die Freiheit führte ihn nach Paris, wo sein künstlerisches Wollen, sein ganzes Leben trostlos versickerte. Aber es sind Träume von einer wunderbaren Farbe und Fülle, wie sie nur in der Einsamkeit einer düsteren Kerkerzelle einer exaltierten Phantasie entspringen können. Und die alte glanzvolle, blendende Dialektik hat bei ihrer Darstellung den Dichter nicht verlassen. Sie erscheint vertieft, zu höherer Kunst gereift in der Einsamkeit. Und sie findet in der Abgeschlossenheit Hilfsmittel von unvergleichlicher Wirkung, wie sie im Treiben des geräuschvollen, glänzenden Lebens wohl niemals sich ihr dargeboten hätten. Eins vor allen: die Gestalt Christi tritt dort in ihren Bereich. / Die Jesus-Betrachtungen, die Wilde in seine Readinger Aufzeichnungen einflicht, geben dieser an vielen Stellen den Charakter einer Dichtung. Einer hohen, von warmer Liebe zu dem Gegenstand durchstrahlten Dichtung! Denn sie stellen sich als der künstlerisch objektive Gipfelpunkt des subjektiven, mit glänzender, aber oft kalter Dialektik aufgeführten Unterbaues von der Vollendung des Lebens als eines Kunstwerkes dar. In Jesus, den Wilde erst im Kerker näher kennen lernte – es war ihm gestattet, ein griechisches Neues Testament zu lesen –, findet er den Erfüller seines ästhetischen Lebensideals, den einzigen Vertreter eines romantischen Menschentums von vollendeter Reinheit. [...] / Es ist das Wunderbare an Christi Gestalt, daß ein jeder sie auf seine Weise voll erleben kann und daß sie doch von keinem in ihrer Ganzheit und Vollendung erschöpft wird. Das vollendet Menschliche in ihr, das schon die ersten Christen nicht anders fassen konnten als daß sie es ein Göttliches nannten, tritt auch dem Dichter Wilde nach seiner Auffassung vollendet entgegen. ‚Gefühlskräfte sind,‘ so sagt dieser Künstler an einer Stelle der Intentions, ‚in ihrer Ausdehnung und Dauer ebenso beschränkt wie die Kräfte physischer Energie. Der kleine Becher, der ein gewisses Quantum fassen soll, kann soviel aufnehmen und nicht mehr, wenn auch alle Purpurfässer Burgunds bis zum Rande mit Wein gefüllt sind.‘ So kann auch die ästhetische Lebensauffassung Wildes nur den ihr entsprechenden Teil aus der Fülle der Erscheinung Christi in sich aufnehmen, aber es ist schon genug, um dem Unglücklichen, der nach seiner Weise um eine Versöhnung mit dem Leide ringt, unendlichen Trost ins Herz zu gießen. Denn er fühlt, daß die Erhöhung des Menschentums, die er aus der Tiefe seines Elends heraus als einzige Hilfe erträumt und anstrebt, schon in der Gestalt des Heilands vollzogen war, und wenn er jene Erhöhung auch nur als eine ästhetische aufzufassen vermag, verklärt ihm die Tatsache ihrer Erfüllung doch seine eigenen Lebensträume. ▪ Auf diese Weise wird das De profundis des unglücklichen Ästheten mit einem reichen Inhalt erfüllt und gewinnt auch einen weit über seine literarische Bedeutung hinausgehenden Wert. Vielleicht ist dieses Werk Oscar Wildes aus diesem Grunde die einzige unter allen seinen Abhandlungen geworden, von der der Verfasser hätte sagen können, daß er alles, was er in ihr geschrieben habe, auch wirklich für wahr halte. Ein ehrliches Ringen nach Erfassen eines Grundes, auf dem er in seinem trostlosen Elende fußen und ein neues Leben gewinnen könne, ist tatsächlich in diesen Readinger Aufzeichnungen zu erkennen. Daß er in seiner Auffassung des Lebens lediglich als eines Kunstwerkes jenen Grund auf die Dauer nicht gefunden, sagt uns sein zerrissenes Dasein in der kurzen Lebensfrist, die ihm nach der Befreiung aus dem Kerker noch beschieden war. Aber als er jene Aufzeichnungen niederschrieb, hat er sicherlich an die Erlösung durch das Leid geglaubt, und deshalb wird dieses posthum veröffentlichte Buch das wahrste aller seiner Lebensbekenntnisse darstellen und für alle Zeiten den Wert eines ganz hervorragenden psychologischen Dokuments und eines hohen Kunstwerkes behalten.“ ● Oskar Bulle (1857 – 1917) war ein Schriftsteller und Philologe und von 1897 bis 1908 Herausgeber der Beilage der Allgemeinen Zeitung in München.

Hugo von Hofmannsthal, ‚Sebastian Melmoth‘, Der Tag [Ausgabe A. Erster Teil: Illustrierte Zeitung] (Berlin), Nr. 115, 09.03.1905 [Sammelrezension von Meyerfelds De Profundis-Ausgabe, einer von Arthur Humphreys 1904 unter dem Titel Sebastian Melmoth herausgegebenen Wilde-Anthologie (Aphorismen und The Soul of Man) sowie der Ballad of Reading Gaol (7. Aufl. 1899)]: „Dieser Name war die Maske, mit der Oscar Wilde sein vom Zuchthaus zerstörtes und von den Anzeichen des nahen Todes starrendes Gesicht bedeckte, um noch einige Jahre im Dunkel dahinzuleben. Es war das Schicksal dieses Menschen, drei Namen nacheinander zu führen: Oscar Wilde, C.3.3, Sebastian Melmoth. Der Klang des ersten nichts als Glanz, Hochmut, Verführung. Der zweite fürchterlich, eines jener Zeichen, welche die Gesellschaft mit glühendem Eisen in eine nackte menschliche Schulter einbrennt. Der dritte der Name eines Gespenstes, einer halbvergessenen Balzacʼschen Gestalt. Drei Masken nacheinander: eine mit wundervoller Stirn, üppigen Lippen, feuchten, herrlichen, frechen Augen: eine Bacchusmaske; die zweite eine Maske von Eisen mit Augenlöchern, aus denen die Verzweiflung sieht; die dritte ein dürftiger Domino aus der Maskenleihanstalt, geborgt, um ein langsames Sterben darin vor den Blicken der Menschen zu bergen. Oscar Wilde glänzte, entzückte, verletzte, verführte, verriet und wurde verraten, stach ins Herz und wurde ins Herz gestochen. Oscar Wilde schrieb die Betrachtung über den Verfall des Lügens, schrieb Fächer der Lady Windermere, schrieb Salome. C.3.3 litt. C.3.3 schrieb die Ballade des Kerkers von Reading und jenen Brief aus dem Kerker von Reading, genannt De profundis. Sebastian Melmoth schrieb nichts mehr, schleppte sich in den Straßen von Paris herum, starb und wurde eingegraben. / Und nun ist Sebastian Melmoth, hinter dessen armem Sarg fünf Menschen gingen, so grenzenlos berühmt. Nun ist alles, was er lebte, beging und litt, in aller Leute Mund. Nun wissen sie alle, daß er in einer Art von Kaninchenstall saß und mit den feinen, blutenden Fingern alte Schiffstaue zu Werg aufdrehen mußte. In aller Munde ist dies von dem fürchterlichen Bad, in das er steigen mußte, dem schmutzigen Wasser, in das die Sträflinge der Reihe nach steigen mußten, und Oscar Wilde als der letzte, weil er der letzte in der Reihe war. ‚Oscar Wilde,‘ sagte mit unbewegten Lippen einer hinter ihm, als sie im Gefängnishof auf und nieder geführt wurden. ‚Oscar Wilde, ich verstehe, daß Sie mehr leiden müssen als wir anderen alle.‘ Auch diese Worte, die irgendein Sträfling, mit unbewegten Lippen und doch hörbar, in seinem Rücken flüsterte, sind heute sehr berühmt. Sie sind ein Detail einer Legende, die wundervoll ist, wie immer etwas Wundervolles entsteht, wenn das Leben sich die Mühe nimmt, ein Schicksal dichterisch zu behandeln. / Aber man sagt: ‚Welch eine Wandlung!‘ Man sagt: ‚Oscar Wilde, der frühere, und Oscar Wilde, der andere‘. Man spricht von einem Ästheten, aus dem ein neuer Mensch geworden ist, ein Gläubiger, gar ein Christ. Man hat sich angewöhnt, von gewissen Romantikern gewisse Dinge zu sagen, und man wiederholt sie gerne. Man sollte sie nicht wiederholen. Erstens darum, weil sie wahrscheinlich schon das erstemal nicht ganz richtig waren, und zweitens darum, weil die Zeiten sich verändern und es gar keinen Sinn hat, so zu tun, als ob die Dinge wiederkämen, während in Wirklichkeit immer neue, unendlich differenzierte, unendlich merkwürdige Dinge heraufsteigen. Es hat gar keinen Sinn so zu sprechen, als ob Oscar Wildes Schicksal und Oscar Wildes Wesen zweierlei gewesen wären und als ob das Schicksal ihn so angefallen hätte wie ein bissiger Köter ein ahnungsloses Bauernkind, das einen Korb mit Eiern auf dem Kopf trägt. Man sollte nicht immer das Abgegriffenste sagen und denken. / Oscar Wildes Wesen und Oscar Wildes Schicksal sind ganz und gar dasselbe. Er ging auf seine Katastrophe zu, mit solchen Schritten wie Ödipus, der Sehend-Blinde. Der Ästhet war tragisch. Der Geck war tragisch. Er reckte die Hände in die Luft, um den Blitz auf sich herabzuziehn. Man sagt: ‚Er war ein Ästhet, und dann kamen unglückselige Verwicklungen über ihn, ein Netz von unglückseligen Verwicklungen.‘ Man sollte nicht mit den Worten alles zudecken. Ein Ästhet! Damit ist gar nichts gesagt. Walter Pater war ein Ästhet, ein Mensch, der vom Genießen und Nachschaffen der Schönheit lebte, und er war dem Leben gegenüber voll Scheu und Zurückhaltung, voll Zucht. Ein Ästhet ist naturgemäß durch und durch voll Zucht. Oscar Wilde aber war voll Unzucht, voll tragischer Unzucht. Sein Ästhetizismus war etwas wie ein Krampf. Die Edelsteine, in denen er vorgab, mit Lust zu wühlen, waren wie gebrochene Augen, die erstarrt waren, weil sie den Anblick des Lebens nicht ertragen hatten. Er fühlte unaufhörlich die Drohung des Lebens auf sich. Das tragische Grauen umlagerte ihn fortwährend. Unablässig forderte er das Leben heraus. Er insultierte die Wirklichkeit. Und er fühlte, wie das Leben sich duckte, ihn aus dem Dunkel anzuspringen. / Man sagt: ‚Wilde sprach geistvolle Paradoxa, an seinen Lippen hingen die Herzoginnen, seine Finger zerpflückten eine Orchidee, und seine Fußspitzen wühlten in Polstern aus alter chinesischer Seide, dann aber kam das Unglück über ihn und er wurde in das Bad gestoßen, aus dem vorher zehn Sträflinge gestiegen waren.‘ Aber man muß das Leben nicht so banalisieren, man muß nicht alles auf das Niveau eines Unglücksfalles herunterzerren. Die wundervoll geschliffenen Worte, die bis zum Schwindelnden mondänen und bis zur Gequältheit zynischen Sätze, die von diesen schönen, geschwungenen, verführerischen und frechen Lippen fielen, waren im Tiefsten gar nicht für das Ohr der schönen Herzoginnen gesprochen, sondern für das Ohr einer Unsichtbaren, die ihn mit Grausen lockte, wie die Sphinx, an die er unaufhörlich dachte, während er sie unablässig verleugnete, und deren Namen ‚Wirklichkeit‘ er nur im Munde führte, um ihn zu verspotten und zu demütigen. Und seine Glieder, die Orchideen zerpflückten und sich in Polstern aus uralter Seide dehnten, waren im Tiefsten voll fataler Sehnsucht nach dem gräßlichen Bad, vor dem sie doch, als es sie dann wirklich bespritzte, sich zusammenkrampften vor Ekel. / Darum muß es erschütternd gewesen sein, Oscar Wilde in einem Augenblick seines Lebens zu sehen. Ich meine in dem Augenblick, als er, über den niemand Gewalt hatte als sein Geschick, entgegen dem Flehen seiner Freunde und fast zum Grausen seiner Feinde zurückkehrte und den Queensberry verklagte. Denn damals muß die Maske des Bacchus mit den schön geschweiften, üppigen Lippen in nie zu vergessender Weise umgewandelt gewesen sein in die Maske des sehend-blinden Ödipus oder des rasenden Ajax. Damals muß er um die schöne Stirn die Binde des tragischen Geschicks getragen haben, sichtbar wie wenige. / Man muß das Leben nicht schaler machen, als es ist, und die Augen nicht wegwenden, um diese Binde nicht zu sehen, wo einmal eine Stirn mit ihr umwunden ist. / Man muß das Leben nicht banalisieren, indem man das Wesen und das Schicksal auseinanderzerrt und sein Unglück abseits stellt von seinem Glück. Man darf nicht alles sondern. Es ist alles überall. Es ist Tragisches in den oberflächlichen Dingen und Albernes in den tragischen. Es ist etwas würgend Unheimliches in dem, was man Vergnügen nennt. Es ist Dichterisches in den Kleidern der Kokotten und Spießbürgerliches in den Emotionen der Lyriker. Es ist alles im Menschen drin. Er ist voll der Gifte, die gegeneinander wüten. Es gibt auf gewissen Inseln Wilde, die ihre Pfeile in den Leib ihrer toten Verwandten stecken, um sie unfehlbar tödlich zu vergiften. Dies ist eine geniale Art, einen tiefen Gedanken metaphorisch auszudrücken und dem Tiefsinn der Natur ohne viel Umschweife zu huldigen. Denn wirklich, die langsam tötenden Gifte und die Elixiere der sanft schwelenden Seligkeiten, alles liegt in unserem lebendigen Leib beisammen. Man kann kein Ding ausschließen und keines für so niedrig nehmen, daß es nicht eine sehr große Macht sei. Es gibt, vom Standpunkte des Lebens betrachtet, kein Ding, das ‚dazu gehört‘, und kein Ding, das nicht ‚dazu gehört‘. Es ist überall alles. Alles ist ein Reigen. / Wundervolles Wort des Dschellaledin Rumi, tiefer als alles: ‚Wer die Gewalt des Reigens kennt, fürchtet nicht den Tod. Denn er weiß, daß Liebe tötet.‘“ ● Harry Graf Kessler war übrigens von dem Artikel seines Freundes so begeistert, daß er ihn noch am Erscheinungstag mit folgendem Anschreiben an Robert Ross schickte: ‚Dear Mr Ross, Allow me to send you an article on Oscar Wilde by Hofmannsthal, whom I consider one of our most perfect and certainly our most delightful poet. I don’t know, whether you understand German, but I can assure you, that the style of the article is not unworthy of the writer of De Profundis. […]’ (Robert Ross: Friend of Friends, ed. Margery Ross, London 1952, S. 110 f.). Siehe auch Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke, Bd. 33, ed. Konrad Heumann & Ellen Ritter, Frankfurt 2009, S. 347 f.

Alfred Kerr, ‚De profundis‘, Der Tag [Ausgabe A. Erster Teil: Illustrierte Zeitung] (Berlin), Nr. 121, 12.03.1905: „I. Als Oscar Wilde in Reading Werg zupfte, Säcke flickte, zur Strafe für kleine Landpartien in ein Märchenreich, wo seine Wißbegier neue Vergnügungen ... oder doch neue Kenntnisse suchte; oder wenn es beides nicht war, so doch einen neuen Nimbus: da schrieb er in seinem Kaninchenstall die Empfindungen dieses Stadiums nieder. / Und hier fällt die Maske des Genüßlings, hier fällt die Maske des Auskosters. Den Wonnen des Zuchthauses ist er nicht gewachsen, er weiß diese letzte Erfahrung nicht überlegen zu schmecken. Er fällt aufs Antlitz ... Er sagt nicht etwa epikurisch und mit Ewigkeitsgefühlen: die komischen Zeitgenossen! Sie haben mich nun wie ein Tier eingesperrt, weil ich um ein weniges von ihren Bräuchen abwich! (ohne daß ich irgendwem ein Leids zugefügt) – die komischen Zeitgenossen! Das schreibt er nicht, sondern: ‚Ich ließ mich vom Vergnügen ins Joch zwingen. Und das Ende war die greuliche Schande. Jetzt bleibt mir nur eins: völlige Demut.‘ Jetzt bleibt ihm nur eins: völlige Demut ... Und hierauf entdeckt er Christum. / Das ist der Kern der Blätter De profundis, (über die neulich Hofmannsthal von anderem Gesichtspunkt sprach). Es ist ein Verdienst Max Meyerfelds, diese Veröffentlichung durchgesetzt und vorzüglich besorgt zu haben. // II. Oscar Wilde ist ... ein dichtender Literat. [...] Ein Literat ... Bei dieser Gattung sind die eigenen Gefühle schwächer – und immer stark die Erinnerungen an Historisches. Diese Leute haben weit mehr gewesene Situationen anderer im Auge, als daß sie in ihren eigenen Situationen urwüchsig und stark fühlten. Sie empfinden weniger Haß und Liebe, – sondern sie empfinden parallel zu gewesenem Haß und gewesener Liebe. Der Leser wird Bescheid wissen. // III. Bei Wilde springt das Literatentum in die Augen, wenn die Erinnerung an zwei geschichtliche Vorgänger, den Marquis de Sade und Gilles de Retz, an den Beginn der Aufzeichnungen gepflanzt ist. Er sieht sich ... Oder: Wilde hebt wägend seine Gestalt gegen die Gestalt Byrons ab, schreibt Erörterungen über ihrer beider Stellung hin. Oder er wird ... nicht ein neues Leben anfangen, schlechtweg, sondern eine Vita Nuova, dantischen Angedenkens. Wie eine Erinnerung klingt noch jener widerliche, nie zu verzeihende Satz: ‚Jetzt bleibt mir nur eins, völlige Demut.‘ / Wie eine Erinnerung. Wildes Taten und Ende scheinen mir literarisch vorgemalt durch Verlaine. Verlaine hatte nicht lange vorher zu dem jungen Rimbaud ein Verhältnis gehabt, wie Oscar Wilde zu dem Lord Soundso. Verlaine hatte zwei Jahre gesessen (im Zusammenhang mit dieser Liebe) und in Büchern vom Gefängnisaufenthalt erzählt. Verlaine hatte dann sein ‚Domine, noverim te!‘ [St. Augustinus] gerufen. / Doch ich stelle mir vor: Verlaine hegte seinem Arthur gegenüber eine tiefere Leidenschaft (er griff ja zum Messer; weshalb er ins Loch kam) – für Wilde scheint es mehr eine ästhetische Phase gewesen zu sein. Das Bewußtsein eines Kennergenusses. Mag immerhin die Anlage dünn in seinem Organismus geschlummert haben: Wilde war ein Sündengigerl. Ein Literat; der andere war mehr ein Urempfinder. // IV. Hierin liegt für mich der Kern des Buchs. Noch der Christus, den Wilde im Gefängnis aufbaut, wird ein Literaturchristus. Nichts an der Gestalt empfindet er einfach; sondern er gibt was Zurechtgelegtes. Wilde sieht ‚Christus als den wahren Vorläufer der romantischen Bewegung im Leben‘. Er äußert: ‚Fürwahr, Christus gehört unter die Dichter‘; – ‚Shelley und Sophokles sind seine Brüder‘. Leiden und Kummer, findet er, waren für Christus Formen, durch die er seinen Schönheitsbegriff verwirklichen konnte. Wie schief! Christus, als Künstler, erkennt bei Wilde, daß eine Idee wertlos ist, bis sie zum Bild wird, ‚so machte er aus sich das Bild des Leidenden, und als solches hat er die Kunst angeregt ...‘ Schauderhaft. Schauderhaft. Schauderhaft. Christus, von einem Literaten gedeutet. Und wieviel Feigheit steckt nicht letzten Endes hinter diesem Zurechtkneten? ... Man erinnert sich doch, daß die Blätter nicht in Hellas geschrieben wurden, sondern in einer britischen Strafanstalt – von einem Artisten. Beim Tode der Mutter spricht er von dem ‚purpurnen Schauspiel‘ seines unaussprechlichen Wehs. Etwas in uns ruft: Literatus ille! Wenn die Mutter stirbt, hört nicht die Farbenlehre auf? / Um die gedrängte Formel zu geben für den Eindruck dieses Buchs: es ist christelnd und artistelnd. Darin liegt sein letzter Kern: artistelnd und christelnd. / ... Und hinter allen ungraden Gebärden, hinter aller mangelnden Stromleitung taucht nur noch etwas auf, das mächtiger ist als diese Kleinigkeiten, wichtiger als die Bagatelle der Kunst, wichtiger als die Bagatelle des Aufrechtbleibens: ein Mensch, der gelitten hat. Wer schreibt dort im Kaninchenstall von Reading? Ein Mensch, der gelitten hat. Ein Künstler, der vielleicht mehr mit den Apparaten der Kunst lebte, als daß Kunst aus ihm wuchs [...]. Einer, der die Allüren des Schöpfers vielleicht mehr besaß als die Schöpferlohe. Dessen Leitung zu häufig stockte, wenn nicht das Erinnern an Vorbilder, an Gewesenes, an ‚ähnliche Fälle‘ Strom gab. Ein Mittelbarer. Eine Literatennatur eher als eine Vollnatur. Ein Zusammenbrechender. Kein Bekenner ersten Ranges, wenn man durch Zufall an Johann Jacob Rousseau aus Genf erinnert wird. Aber (hole dies alles der Teufel) ein feiner Mensch, der viel gelitten hat. // V. Und darum wächst als Schlußeindruck aus dem Eindruck des Buchs noch ein letzter Zorn wider die Verbrecher, die Verbrecher, die Verbrecher, die ihn knebelten.“

Rudolf Presber, Die Post (Berlin), 40. Jg., Nr. 121, (Sonntag), 12.03.1905, Beilage. Aufnahme in die Bibliographie ohne Autopsie und Besitznachweis. Quelle: Das literarische Echo, Bd. 7, Nr. 13, 01.04.1905, Sp. 924, Rubrik ‚Echo der Zeitungen‘: ‚Von dem englischen Sträfling, dessen in Kerker und Banden geschriebene Beichte Max Meyerfeld kürzlich veröffentlicht hat, ist auch weiterhin oft die Rede. Rudolf Presber nennt diese Aufzeichnungen Wildes ein „Bekenntnisbuch im höchsten und schönsten Sinne“ (Post, Sonnt.-Beil. 11) [...].‘ Die Angabe des Literarischen Echos wird gestützt durch einen Brief Meyerfelds vom 13.03.1905 an Presber – der Name des Adressaten bleibt allerdings ungenannt –, in dem es heißt: ‚Verehrter Herr Doktor, [...] Was Sie über De Profundis in der Post sagen, hat mich ungemein interessiert. Vielen Dank für die freundlichen Worte, die Sie mir widmen.‘ (Hessische Landesbibliothek Wiesbaden, Hs 349 [264]). ● Rudolf Presber (1868 – 1935) war ein Lyriker, Romancier, Dramatiker und Drehbuchautor und von 1899 bis 1905 Feuilleton-Redakteur bei der Post. Er hatte 1892 in Heidelberg mit einer Dissertation über Arthur Schopenhauer als Ästhetiker promoviert.

G. Weiß, ‚Aus der Tiefe‘, Der alte Glaube. Evangelisch-Lutherisches Gemeindeblatt (Leipzig), 6. Jg., Nr. 25, 24.03.1905, 589-594: „[1.] Oscar Wilde ist aus dem Gedächtnis der englischen Nation gestrichen. Selbst die erschütternde Ballade aus dem Zuchthause von Reading vermochte das Schweigen nicht zu brechen, das seinen bitteren Todesgang wie eine eisige Wolke eingehüllt hat. Kein Glied der guten Gesellschaft in England wagt mehr, laut von dem Verstorbenen zu reden. Durch ein stilles Übereinkommen der öffentlichen Meinung ist sein Name in alle Tiefen des Meeres versenkt. / Die Literaten des Festlands zetern über die grausame britische Heuchelei. [...] Wir können in derartigen Anklagen nicht viel Sinn und Verstand entdecken. Unter den Engländern mag die Kraft der sittlichen Reaktion gewissen Verfehlungen gegenüber besonders stark ausgebildet sein: in Wahrheit trifft ihr Rächerstahl den Frechen, Zuchtlosen unter jedem Himmelsstriche. Der alte Satz, daß das Schwert des Gesetzes niemand schärfer schlägt als die freien Geister, die sich von Jugend auf über jede göttliche und menschliche Ordnung erhaben dünkten, hat sich an Oscar Wilde von neuem bestätigt. [...] / Man fahndet nach einer glatten Formel für Oscar Wildes Bedeutung. Kein Dichter, sondern ein Kritiker, kein Könner, sondern ein Artist, kein Schöpfer, sondern ein Literat! – schwirren die Urteile durcheinander [s.o. Alfred Kerr]. Wir haben hier nicht zu entscheiden, wo Recht oder Unrecht liegt. Wohl aber möchten wir betonen, daß Oscar Wilde etwas mehr als ein Lustspieldichter, ein Romanschriftsteller oder ein gewandter Essayist war. Er war ein Löwe der Salons, der Held der Gesellschaft, ein führender Geist in weiten Schichten des modernen Englands. [...] Oscar Wilde gehörte zu der modernen Aristokratie des Geistes, den Ästheten. Er war moralinfrei in Nietzsches Sinn. Das Gewissen kannte er nicht. An seine Stelle trat für ihn ein feines, oft freilich auch bizarres und entartetes Schönheitsgefühl. Sittliche Grundsätze wandte er weder auf sich noch auf andere an. Die Welt, in der er lebte, war durch künstlerische Bedürfnisse, Anschauungen und Genüsse vollständig ausgefüllt. Vornehm und elegant, einer jener müßiggängerischen Stutzer, deren Dasein zwischen Modetorheiten, üppigen Diners, geistreichen Wortgefechten und einer Selbstbewunderung dahinfließt, kannte er nur eine Göttin, vor der er seine Knie beugte: die sinnliche Schönheit. Ihren Glanz über das Gewöhnlichste und Alltäglichste des gesellschaftlichen Lebens wie über die Gestalten seiner dichterischen Phantasie oder die erlesenen Vergnügungen eines ästhetischen Feinschmeckerkreises auszuschütten, war die Lebenskunst des irischen Lebenskünstlers. / [...] Dichterischer Ruhm, modische Eleganz, gesellschaftliche Erfolge, reiche Schriftstellerernten stellten ihn auf einen Gipfel des Lebens, den kaum ein zweiter mit ihm teilte. Den König des Lebens nannte man ihn in London, den großen Genießer in Paris. [...] So herrschte Oscar Wilde in seiner Welt des berückenden Scheins, von einem großen Teil der englischen Gesellschaft als die feinste Verkörperung des modernen Geistes angestaunt, nachgeahmt und verhätschelt. Da auf einmal öffnete sich aber die Wolke, die schon länger über seinem Haupte geschwebt hatte, zuckende Blitze fielen nieder und die ganze Herrlichkeit eines sybaritischen Künstlerdaseins versank wie mit einem Zauberschlage in Nacht und Grauen. [...] / [2.] In der ersten Zeit [im Gefängnis] war ihm alle geistige Beschäftigung untersagt. [...] Allmählich gab es aber einige Bücher und zuletzt auch rauhes, graues Schreibpapier. Ihm hat er sein einziges Werk, dessen er im Gefängnis fähig war, eine ‚Epistel aus Kerker und Banden‘, die ergreifenden Selbstbekenntnisse De Profundis. Herausgegeben und eingeleitet von M. Meyerfeld. Berlin, S. Fischer 1905. Preis brosch. M. 3 – anvertraut. Ihr Wert ist schwer zu bestimmen. Sie gewinnen nichts, wenn man sie neben die Konfessionen eines J. J. Rousseau stellt, und verlieren nichts, wenn man sie als ‚christelnd und artistelnd‘ mit einer verächtlichen Handbewegung beiseite schiebt [s.o. Alfred Kerr]. Schreiben konnte sie allein Oscar Wilde, der genußselige Ästhet, der, ‚es müde geworden, auf den Höhen zu wandeln, aus freien Stücken in die Tiefen hinabstieg und hier nach neuen Reizen fahndete‘. Er bleibt, was er war, auch hinter Kerkermauern: der feinfühlige Lebenskünstler, der in allem, was ihm begegnet, nur Stoff zu einem neuen Kunstwerk begrüßt. Von der Stunde an, da Christus durch seine dunkle Zelle schreitet, vertiefen sich aber seine künstlerischen Lebensideale und damit werden seine Aufzeichnungen und Briefe aus dem Zuchthause von Reading zu einem der erschütterndsten Dokumente modernen Seelenlebens. [...] / [3.] Oscar Wilde bemüht sich mit großem Ernst, das Bild seiner geistigen Zukunft sicher zu umschreiben. Keine Rachgier, kein Haß und keine Verbitterung darf seine Seele beschweren. Glücklich und guter Dinge, in abgeklärter, sittlich gereifter Heiterkeit will er der Welt von neuem entgegentreten und ihrer Verleumdung durch ein Kunstwerk höherer Art die Zunge an der Wurzel ausreißen. Vor allen Dingen aber gedenkt er, dem modernen Geschlecht die Heiligkeit des Leids, dieses dunkle und am Ende doch so lichte Geheimnis des Lebens, in der Sprache persönlicher Vollkommenheit wie im Dienste teilnehmender Liebe zu bezeugen. Sie sollen lernen, daß Schönheit und Leiden nicht feindliche Brüder sind, die einander hassen und meiden, sondern treue Geschwister, die Hand in Hand an der Vollendung des menschlichen Charakters arbeiten. Dies alles, der große Entwurf einer neuen sittlichen Lebensführung mit dem Schmerz im Herzen als der Urform und dem Prüfstein jeder wahren, reinen Kunst, muß aus ihm selbst kommen. Die Moral hilft ihm nicht dazu. Denn er ist der geborene Antinomist. Die Religion nicht. Denn er würde am liebsten einen Orden der Ungläubigen, der Agnostiker stiften. Die Vernunft nicht. Denn sie sagt ihm, er sei das Opfer falscher, ungerechter Gesetze geworden. Und doch wird ihn seine steile Bahn mit einem näher und inniger zusammenführen: mit Christus, dessen Leben das höchste Kunstwerk war, weil es Schmerz und Schönheit zu einem heiligen Bunde verschmolz. / Es ist ein seltsames Licht, in das Oscar Wilde Christus rückt. Er zählt ihn zu den Dichtern, den größten Künstlern und nennt Shelley und Sophokles seine Brüder! Die Grundkraft seines Wesens war die Phantasie. Sie aber gehorchte einer einzigen, allmächtigen Herrin: der Liebe. In dieser Liebe vermählte er sich selbst dem Leiden, ganz so wie später sein einziger Schüler, Franz von Assisi, die Armut zu seiner Braut erwählt hat. Und dadurch vollendet sich seine Schönheit im Schmerz. Er wird der gewaltigste Individualist, der Einzigartige unter den Menschen, die erste Persönlichkeit der Weltgeschichte. Die Worte seines Mundes sind voll dichterischen Reizes, so schlicht und einfach wie Blumen und Kinder und doch kräftiger an Anregung und Befruchtung für jede künstlerische Tätigkeit als der ganze Olymp, mit Göttern und Göttinnen bevölkert. [...] Die Welt des Einfachen, die menschliche Seele, die Welt des Unausgesprochenen, der menschliche Schmerz, die Welt des Verfehlten und Verkehrten, die menschliche Sünde, bilden die Gefilde seines Königreichs. Sie aber füllt er mit dem Sonnenglanze wärmender Liebe. Er kleidet die Seele in sein königliches Gewand, adelt den Schmerz, weiht und erhebt den Sünder und schafft so aus seinem Dasein ein Kunstwerk von unvergänglichem Reize. Es lehrt nichts, sondern wir werden etwas, sobald uns seine Gemeinschaft geschenkt wird. / So ungewohnt, ja vielleicht abstoßend uns diese ästhetische Wertung des Allerverachtetsten und Unwertesten aber auch vorkommen mag, sie beruht doch auf einer inneren Berührung mit Christi Bild. [...] Daß diese regelmäßige Beschäftigung mit den Evangelien bei Oscar Wilde nicht tiefer wirkte, ist in der Natur der Verhältnisse begründet. Der große Ästhet war noch nicht in der Tiefe gebrochen. Er sah wohl seine Verirrungen wie ein aufgeschlagenes Buch vor sich liegen. Aber sein Gewissen sagte ihm nichts von einer Schuld vor Gott, das Gesetz nichts von einem göttlichen Zorn und ewigen Gericht. So ging er an dem Erlöser achtlos vorüber und erfrischte sein krankes Herz an dem Zauber des vollendeten Menschen. [...] / Oscar Wilde hat das Gefängnis als ein innerlich zerbrochener Mann verlassen. Das neue Kunstwerk, mit dem er die Gesellschaft schlagen wollte, trat ebensowenig in die Wirklichkeit als das neue Leben, zu dem er sich aufzuraffen gedachte. Nach wenigen Jahren, die er in Frankreich unter fremdem Namen, mit literarischen Lohnarbeiten mühsam sein Leben fristend, zugebracht hatte, sank er in ein ruhmloses Grab, nachdem er vorher noch Frieden in der römischen Kirche gesucht hatte. Man spricht von fünf Menschen, die dem Sarge des vergötterten Lieblings der englischen Gesellschaft gefolgt sein sollen. So verweht die Gunst der Welt! Seine Bekenntnisse aber werden bleiben. Sie sind wie ein warnendes Denkmal an den Irrwegen des modernen Geistes aufgeschichtet und zeugen nicht minder von der unvergänglichen Gewalt des ewigen Meisters, der selbst die Männer ohne Gewissen, Gesetz und Glauben vor seiner hoheitsvollen Größe auf die Knie niederzwingt.“ ● Näheres über G. Weiß nicht ermittelt.

Franz Blei, ‚De profundis‘, Österreichische Rundschau (Wien), 30.03.1905 (Bd. 2, H. 22), 430-432: „Wilde hatte viele und nicht geringe Meinungen von sich; er hielt sich für einen Führer und Lehrer der Menschheit, einen Propheten, einen Denker, einen großen Dichter, einen Dandy. Daß er so oft Anlaß nimmt, uns dieser seiner Kräfte zu versichern, macht nachdenklich und darüber zweifeln, ob er wirklich Herr dieser Kräfte war, ob eben diese Bewußtheit seiner suchenden Seele nicht immer im Wege stand, ob er nicht alles nur sein wollte, was er zu sein, wahrhaft und wirklich zu sein meinte. Aber auch Ambitionen können das Wesen eines Menschen merkwürdig bestimmen, und Wilde verstand es, für seine Ambitionen ein treffendes Wort und eine deutliche Pose zu improvisieren, denn sein literarisches Temperament war so stark wie sein gesetzloser Egotheismus, mit dem er sich über alles Leben stellen zu können meinte. Und wo er die Improvisation weiter treibt, wo er ihr Dauer geben will, da werden feinere Ohren das Geräusch einer pedantischen Arbeit hören – viele, die ihn persönlich gekannt haben, verzichten darauf, seine Bücher zu lesen, weil sie ihnen allzusehr gemacht und falsch geschmückt vorkommen. Er war von jenen, qui passent leur vie à se parler. [ Balzac, La Cousine Bette: zitiert von Robert Harborough Sherard in Oscar Wilde. The Story of an Unhappy Friendship (1902), Kap. 3] ▪ Ähnlich wie Beardsley die Formtraditionen der Präraffaeliten, brachte Wilde die ästhetischen Traditionen, die von Pater ausgingen, zu einem Ende, das der Auflösung gleich ist, durch eine heftige und oft pedantische Forcierung des Prinzips vom Leben in Schönheit, das ihm so zu einem Paradox wird, mit dem zu spielen ihn sein leichter irischer Witz gern verleitet. Kein Dichter hat je die Kunst absoluter über das Leben gestellt als Wilde; sie war ihm weder ein heimliches Laster noch ein Trost, kein Rauschmittel und keine naive Düperie; sie sollte ihm nicht das Leben erträglich machen, sollte ihm vielmehr das Leben überhaupt sein, der Sinn des Lebens, als dessen König er sich fühlte und als dessen erste Pflicht er erkannt hatte, so künstlich als möglich zu sein, und von der zweiten Pflicht sagte, sie sei noch nicht entdeckt. Die eigene unruhige, unberuhigte Art und die Verblüffung der Welt über seine Andersheit ließen ihn alle Gedanken bis ans Ende, das Paradox, denken, und ‚was mir das Paradoxe in der Sphäre des Denkens, wurde mir das Perverse im Bereich der Leidenschaft‘. Da waren noch dunkle Gründe und Bezirke im Bereich des Lebens, die er in das Reich seines Lebens bringen mußte, das er ohne Grenzen nur fassen konnte, als ein formloses Stück des Größeren, der Kunst. Nicht des darum Wissens wegen lud er die ‚Schädlinge des Lebens‘ an seine Tafel, nicht um irgendwelcher Künste willen gelüstete es ihn, von den Früchten aller Bäume im Garten der Welt zu essen – er fühlte: die Vollendung durchläuft den ganzen Kreis, die Tag- und Nachtseite, und er wollte sich die Welt in seine Brust drücken, um des Kunstwerkes seiner selbst willen, dessen Maße er größer fand als die alles Lebens. Alles Leben wollte er in sich ziehen, um es aufs neue sich zur Kunst zu schaffen, sich selbst, den Schöpfer, darin als Erschaffenes, schaffend und schauend, genießend und sich selber ein Genuß. ▪ Da nahmen dem Glücklichen, der ‚Schmerzen und Sorgen aus dem Wege gegangen war, da sie ihm beide zuwider‘, da nahmen ihm die Menschen den goldenen Becher aus der Hand, der seiner Seele Perle im Weine hielt, und gaben ihm ein Blechgeschirr dafür, gefüllt mit Ekel und Elend, und nahmen diesem Wandelnden unter dem Licht, der sich ein Gott träumte, alle erfahrenen Möglichkeiten seines Traumes, da sie sein Leben zum Tiefsten erniedrigten. Es war eine Probe auf sein Königtum über das Leben, und er hat sie als Künstler bestanden: er fand sich das Glück der Gestaltung seines Schmerzes und behauptete sein Königreich. Er trug auch dieses Leben des Elends, indem er es sich zum Kunstwerk schuf: ‚Die Darstellung ist für den Künstler die einzige Form, unter der er das Leben begreifen kann.‘ Dieses De profundis ist ein Kunstwerk, kein Bekenntnis- oder Tagebuch – wer es so nimmt, wird Lügen und Unehrlichkeiten darin finden, weil er irgendwelche menschlichen Beweise sucht, die Wilde gar nicht geben will und seinem Wesen nach gar nicht geben kann. Er findet das Pathos seiner Situation, das ihm nötige Piedestal und improvisiert darüber. ▪ Wilde erinnert an sein früheres Leben und findet eines darin nicht, das ihm nun zu seiner Vollendung zuteil ward: den Schmerz, und er findet ‚für das purpurne Schauspiel seines Wehs‘ die ergreifendsten Worte der Schönheit und richtet seinen Schmerz an der Liebe auf. Schmerz und mitleidige Liebe sind nun sein Piedestal, ohne das seine pathetische Art nicht sein kann. Und in Christus schafft er sich ein Symbol seiner Sehnsüchte und Erfahrungen, in einem Christus, der, ‚des Shelley und des Sophokles Bruder‘, ‚ganz ein Kunstwerk ist‘, der ‚sich die ganze Welt des Unausgesprochenen, die Welt des Schmerzes, die keine Stimme hat, zu seinem Königreich erkor und sich selbst zu ihrem eigenen Sprachrohr machte‘. Aus der Not seines Herzens und allen Wünschen seiner Kunst deutet er sich des Heilands Mythologie: ‚Und da er vermöge der künstlerischen Natur eines, dem Leiden und Kummer Formen waren, durch die er seinen Schönheitsbegriff verwirklichen konnte, inne ward, daß eine Idee wertlos ist, bis sie Fleisch wird und zum Bilde, so machte er aus sich das Bild des Leidenden, und als Leidender hat er die Kunst angeregt und so beherrscht, wie es niemals einem griechischen Gotte vergönnt war. – Jesus von Nazareth erschuf sich völlig aus seiner eigenen Phantasie.‘ Und: ‚Sein vornehmlichster Zweck war nicht, die Leute zu bessern, so wenig wie die Leiden zu lindern. Er erachtete in einer von der Welt noch nicht begriffenen Weise die Sünde und das Leiden als etwas an sich Schönes und Heiliges, als Grade der Vollendung.‘ Der Mensch ist die Geste einer Idee, und die Idee Wildes war die heidnische der alten Welt; es ist wunderbar zu sehen, wie ihm Christus als das Symbol des Schmerzes und hingebender Liebe zu einer antiken Gottheit wird, im Kreis der Götter einen Platz füllt, den die Alten leer gelassen. ▪ So sollte nun die letzte Phase seines Lebens wie ein Freund auf ihn warten. Er hat den goldenen Schlüssel, der ihm das Tor in seine Vita nuova öffnet, die ihm kein neuer Anfang, sondern nur die folgerechte Weiterführung seines früheren Lebens war. Er verzichtet auf nichts, denn er verlangt nach nichts; er weiß: das Glück ist ihm sicher, was auch sei – ‚wer könnte mit Freiheit, Blumen, Büchern und dem Mondlicht nicht ganz glücklich sein!‘ Er ist beruhigt, der Schmerz hat ihn beruhigt. ‚Ich zittere vor Freude, wenn ich daran denke, daß an dem Tage, an dem ich das Gefängnis verlasse, Goldregen und Flieder in den Gärten blühen und daß ich sehen werde, wie der Wind das glänzende Gold des einen ohne Rast und Ruh rütteln und das blau-purpurne Gefieder des andern zausen wird, so daß die ganze Luft mir Arabien sein wird.‘ ... ▪ Aber als er hinaustrat, war nichts da als eine kalte graue Öde und die Banalität eines skurrilen Daseins, über die der goldene Traum der Kunst nichts vermochte. Der gebrochene, entlassene Sträfling – das gab kein Piedestal und keine Möglichkeit der künstlerischen Überwindung. Das Leben tat beleidigt und rächte sich mit einem zynischen Witz an einem Unterlegenen, der aus maßloser Liebe zum Leben dessen Gegner sein mußte.“

Otto Gaupp, ‚Oscar Wildes letzte Worte‘, Münchner Neueste Nachrichten, 58. Jg., 20.04.1905, Vorabend-Blatt, Nr. 186: „Die Nachwelt wird vielleicht De Profundis noch lesen, wenn sie Wildes andere Werke längst vergessen hat. Es ist ein seltsames Buch, in dem der Psychologe nicht weniger findet als der Sucher nach reiner Schönheit, ein Buch, in dem gleichsam eine doppelte Persönlichkeit zu uns spricht, der alte Wilde der Intentions, der unerreichte Künstler in Worten, der Meister bizarrer Einfälle und geistreicher Paradoxe, und daneben ein neuer Wilde, der in der Schule des Leidens Dinge gelernt hat, die ihm vordem ein Buch mit sieben Siegeln waren. Der deutsche Herausgeber hat sich daher ein wirkliches Verdienst um die literarische Welt erworben; denn nur seiner Fürsprache ist es gelungen, Wildes literarischen Testamentsvollstrecker, Mr. Ross, zu bewegen, die Schrift der Öffentlichkeit zu übergeben. Sie sollte zuerst nur in deutscher Form erscheinen, da Mr. Ross glaubte, die herrschende Stimmung in England mache dort eine Veröffentlichung in absehbarer Zeit unmöglich. Die Befürchtung, die aus dieser Ansicht sprach, hat sich als unbegründet erwiesen. Der Tribut, den Deutschland und Frankreich in steigendem Maße Wildes Genius zollten, hatte doch auch die Engländer bewogen, ihre Haltung Wilde gegenüber zu ändern. Der Boykott war bereits vor der Veröffentlichung aufgehoben: Lady Windermeres Fan war unter Wildes Namen in einem Westend-Theater [dem St. James’s Theatre] wieder aufgeführt worden [am 19.11.1904] – und De Profundis selbst hat in der ganzen Presse eine Aufnahme gefunden, aus der man leicht etwas wie Bedauern und Scham über die einstige Härte herauslesen konnte. [Siehe Mason, Bibliography of Oscar Wilde, 445-447.] Der deutsche Herausgeber geißelt die Haltung, die die öffentliche Meinung Englands gegen Wilde einnahm, mit scharfen Worten; es liegt uns ferne, sie zu verteidigen, insbesondere nicht ihre echt englische Unfähigkeit, zwischen dem Mann und seinem Werke zu unterscheiden; aber mildernde Umstände können wir ihr nicht ganz absprechen. [...] / Als Wilde aus dem Gefängnis kam, hat er sich nicht zu den ‚großen einfachen Urdingen‘ geflüchtet, sondern nach Paris, und statt am Meer zu sitzen, bummelte er auf den Boulevards. Man hat auf diesen Widerspruch hingewiesen, um die Ansicht zu bekräftigen, daß er auch in De Profundis nur ein großer Poseur sei. Wir halten sie für falsch. Wilde drückte aus, was er im Gefängnis fühlte; daß er nachher anders fühlte, ändert daran nichts. [...] Wir können in ihm unmöglich ein bloßes literarisches Erzeugnis sehen; unser eigenes Empfinden sagt uns, daß es der bittere Notschrei eines gequälten Herzens ist, eines Herzens allerdings, dem die Götter es verliehen haben, mit höchster Vollendung zu sagen, was es leidet. / De Profundis hat zwei Themen, die sich mit einander verschlingen. Das erste handelt davon, wie Wilde versuchte, seiner Strafe etwas anderes als Verzweiflung und Verbitterung abzugewinnen und wie er dadurch Friede gewann. Das zweite ist eine phantasievolle Studie des Wesens Christi, des großen Leidensfürsten, den eignes Leiden Wilde nahe brachte. [...]“ ● Otto Gaupp (1866 – 1929) war 37 Jahre lang London-Berichterstatter der Münchner Neuesten Nachrichten. Später schrieb er auch für das Hamburger Fremdenblatt.

George Bernard Shaw, ‚Oscar Wilde‘, Neue Freie Presse (Wien), Nr. 14608, 23.04.1905, Oster-Beilage, S. 38: „Es gibt drei europäische Hauptstädte, die noch nicht über das erste Viertel des neunzehnten Jahrhunderts hinaus vorgeschritten sind. Von diesen drei Städten ist Paris die rückständigste, dann kommt Wien; die modernste ist Dublin, meine und Oscar Wildes Geburtsstadt. In Wien werde ich zumindest noch weitere hundert Jahre nicht verstanden werden, denn ich gehöre dem zwanzigsten Jahrhundert an; aber der Stil des achtzehnten Jahrhunderts, den ich schreibe, wird den Wienern vertraut sein, ein Stil, der in Dublin schon geschrieben wurde, als ich noch ein Knabe war. / Aber mit der Art Oscar Wildes wird sich Wien viel leichter befreunden, denn Oscar Wilde besaß nicht nur die künstlerische Kultur des achtzehnten Jahrhunderts, sondern auch eine sehr weltliche Vorliebe für Reichtum, Luxus und Eleganz. Er hat auf seinen Stand eines Gentleman großen Wert gelegt und seine Gegner (namentlich Whistler) immer wieder und wieder wegen ihrer Pöbelhaftigkeit getadelt, und obgleich er sogar in De profundis darauf Anspruch macht, enfant de son siècle zu sein, so war er doch in allen Fragen, die mit der Kunst zusammenhängen, ein verspäteter Romantiker aus der Schule Baudelaires und Théophile Gautiers, wobei er allerdings in der Überzeugung befangen war, daß dies ein vorgeschrittener Standpunkt sei. Frauen gegenüber war Wildes Haltung ritterlich und zartfühlend: es ist kaum glaublich, daß der Autor von Ein idealer Gatte der Zeitgenosse Ibsens, Strindbergs, Wagners, Tolstois oder selbst mein Zeitgenosse gewesen ist. Er war in jeder Hinsicht – von seinen Sittlichkeitsbegriffen abgesehen – ein unmoderner irischer Gentleman, unmodern in seinem Gautierismus, in seiner Ritterlichkeit, seiner Romantik, seinem Patriotismus, seiner gewählten Kleidung und in seiner Gewohnheit, über seine Verhältnisse zu leben. Und da Wien nach Paris die unmodernste Stadt Europas ist und sich dabei doch für ein enfant de son siècle par excellence hält, so sollte Wien Oscar Wilde besser zu schätzen wissen, als er jemals irgendwo in Deutschland oder in England geschätzt werden wird. / Über Wilde als genialen Kopf und geborenen Meister der Bühne brauche ich nicht zu sprechen. Jeder begabte irische Dichter ist so veranlagt. Aber eine Meisterkomödie wie De profundis, seine Aufzeichnungen aus dem Gefängnisse, hat noch kein anderer Irländer hervorgebracht. Trotz der entsetzlichen Grausamkeit der Umstände, unter denen dieses Werk geschrieben wurde, hat es mich belustigt und mehr zum Lachen gereizt, als irgend ein anderes Werk Wildes. Der Mann war so vollständig ungebrochen, so unberührt von Elend, Hunger, Strafe und Schande; so vollkommen erfolgreich und aufrichtig in seiner wunderbaren Pose kummervoller Überlegenheit – einer Gesellschaft gegenüber, die sich so schwach, so beschränkt, so gemein gegen einen großen Mann benommen hatte –, daß Mitleid und Sentimentalität einfach zu Geistesschwäche und schlechtem Geschmack würden – nein, man muß über die Art seines unüberwindlichen Genies aufjauchzen. Wilde hat jede Schändlichkeit und jede Qual, mit der England ihn beladen hat, auf sich genommen; er weist jede Entschuldigung zurück, die England für ihn zu finden sucht. Er gibt England ein wertloses und dummes und sich selbst ein erhabenes, tragisches und überlegenes Gepräge. Man hat ihn im bewegtesten Augenblicke des Tages, in seinen abschreckenden Sträflingskleidern, im größten Gedränge Londons, auf der Plattform eines Straßenbahnwagens eine halbe Stunde lang zur Schau gestellt! Anstatt seine Schande zu verbergen, häuft er sie auf seine Peiniger, indem er diese Szene in ergreifenderer Weise beschreibt, als es die Beschreibung der Schaustellung Christi im Prätorium ist. Im Gefängnis empfing er den Besuch eines Freundes, der dem Gefangenen versicherte, daß er ihn in tiefster Seele für unschuldig an dem Verbrechen halte, dessen er überführt wurde; aber Wilde gibt das nicht zu. ‚Sie irren,‘ antwortet er. ‚Mein Leben war reichlich perversen Freuden gewidmet. Die gegen mich erhobenen Beschuldigungen sind zum größten Teile gerechtfertigt; ich bin weder so unschuldig, wie Sie glauben, noch gebessert.‘ Mit solchen Worten zwang er den gefühlvollen Freund, sich zu entschuldigen und seine Hand zu ergreifen. / Manchmal hat das einen unwiderstehlichen Beigeschmack von Komik. So groß auch Wildes Fähigkeit für Schmerz und Lust ist, seine Fähigkeit für Unglück ist so gering, daß er trotz seiner Absicht, das Buch zu einem Vorwurf gegen die Gesellschaft – wegen ihrer niedrigen Abneigung und grausamen Furcht vor ihm – zu gestalten, diesen Zweck ganze Seiten lang vergißt und es abschweifend in einen Gautierʼschen Essay über Christentum verwandelt, der ein reines Stück belles lettres ist. Dann wird er sich dessen plötzlich bewußt, und, da er den vollen Humor der Sache erkennt, bemerkt er gelegentlich für die Elite seiner Leser sehr schlau: ‚Man hat mir kürzlich genug zu essen gegeben.‘ Ich habe dabei laut aufgelacht. Ein Engländer würde auf dieses Blatt eine Träne fallen gelassen und ‚Armer Kerl!‘ ausgerufen haben. Wilde hält sie zum Narren, selbst aus seinem Grabe, diese Feinde seines Landes und seiner Eigenart. [...]“ ● Siehe auch Shaws Brief an Robert Ross vom 13.03.1905: ‚Dear Ross, I have written an article on Wilde, for the Neue Freie Presse of Vienna ...‘ (Robert Ross: Friend of Friends, S. 111). Trotz dieser Formulierung steht außer Frage, daß Shaw den Artikel in englisch geschrieben und daß ein Ungenannter – höchstwahrscheinlich Siegfried Trebitsch – ihn ins Deutsche übersetzt hat. In Stuart Masons [Christopher Millards] Dokumentation der zeitgenössischen einheimischen Rezeption von De Profundis (Bibliography of Oscar Wilde, 445-447) ist er nicht aufgeführt. Erst seine Rückübersetzung 1962 ins Englische hat ihn allgemein bekannt gemacht. (Siehe Dan H. Laurence & David H. Greene, eds., in George Bernard Shaw, The Matter with Ireland, New York 1962, S. 28-32.)

Hans Leuss, ‚C.3.3.‘, Welt am Montag (Berlin), Nr. 17, 1. Beilage, 25.04.1905: [Die Rezension hebt auch ab auf den Aufsatz ‚Aus dem Zuchthaus zu Reading‘ in Hedwig Lachmann & Gustav Landauers Drei Essays (1904) sowie auf The Ballad of Reading Gaol.] „Das war Oscar Wildes Zuchthausnummer. Ich halte es bekanntlich mit den Zuchthäuslern und glaube mich dabei nicht in schlechterer Gesellschaft zu befinden als unter den Menschen ‚draußen‘, wie man in Strafanstalten die Welt außerhalb des Zuchthauses zu bezeichnen pflegt. Kein Gefangener hat sich je auch nur entfernt so schlecht gegen mich verhalten wie gelegentlich ‚draußen‘ meine ‚besten‘ Freunde. Als ich beurlaubt war, um meinen Vater zu begraben, zeigte ich einem Manne, der sich mir wirklich als ein treuer Freund erwiesen hatte, den Schicksalsschlag an, der mich getroffen hatte. Der Treffliche wußte nichts Besseres zu tun, als mir in diesem Augenblick nur zu wünschen, daß diese gehäuften Schicksale läuternd auf mich wirken möchten! Meine Antwort war auch kurz: ‚Ich habe unter mehr als tausend Zuchthäuslern gelebt; keiner von ihnen wäre einer solchen Roheit fähig gewesen. Ich verzichte auf Sie.‘ Worauf er antwortete, ich müsse wohl an meinem Verstande gelitten haben. [...] / Wer Oscar Wildes drei Schriften aus dem Zuchthause aufmerksam liest, findet Argumente für und wider die Meinung, daß die Einsamkeit, die Einsperrung, läutere, und einige Kritiker haben in meinem eigenen Buche über das Zuchthaus [Aus dem Zuchthause (1903)] Ähnliches entdeckt. Höhnisch hat ein Jurist geschrieben, ich präsentiere mich selbst ja als bestes Argument gegen meine Anklagen über die verderberische Wirkung der langen Freiheitsstrafe, denn auf mich habe sie ja so gut gewirkt, daß ich mich sogar zum Dichter entwickelt habe. [Anspielung auf Leussʼ Humanis homo! Gedichte eines Strafgefangenen (1899).] [...] / Oscar Wildes Zuchthausschriften bestätigen mir den Eindruck, den ich selbst über die moralische Wirkung der langen Haft empfangen habe; diese Wirkung besteht vor allem in einer bis zur Furchtbarkeit steigenden Bereicherung des Gefühls. So lange der Mensch in den Mauern des Zuchthauses ist, bedeutet diese Veränderung für ein von Natur ‚liebenswürdiges‘ Temperament eine außerordentliche Veredelung, und diese Wirkung wird sich auch später vielleicht behaupten. Aber die Bewegungen des Gefühls wollen sich in Taten oder Worten Luft machen, sie reizen die Energie, und da sich diese auf die wenigen Schritte der Zelle angewiesen sieht, da ihre oft brausenden Wellen an den so nahen Wänden ohnmächtig zurückprallen, da ferner die Vereinsamung den Einsamen der Welt und Wirklichkeit entfremdet, da endlich die Ernährung und die Gefängnisluft seinen Körper vollkommen ausmergeln und so kraftlos machen, daß Arbeiter nach einer längeren Haft matt werden, wenn sie nur einen Teppich aufrollen sollen, – so ist das Gesamtresultat der langen Haft eine moralische Verminderung des Bestraften. [...] / Der arme Oscar Wilde! Er, der verwöhnte Genießer vom Gastmahl des Lebens, dem die schöpferische Schönheit des Geistes mit den wilden Genüssen der Wollust durcheinander geronnen war, mußte alle Anlagen zu furchtbarem Leiden mit in das Zuchthaus bringen. Niemand von Euch kann seine erschütternde Klage so verstehen wie ich. Ich mühe mich selbst, das Gefühl des Unbehagens zu unterdrücken, das aufsteigen will, wenn der Zertretene seine Schwachheit schildert, wenn er bekennt, daß es den Mitteln der amtlichen Niedertracht gelungen ist, ihn in Tränen und Klagen aufzulösen. [...] Ich lese Wildes Klagen, ich sehe wohl die furchtbare Passion, die in ihnen ausgedrückt wird; ich sehe die zermarterte Gestalt, und beim Lesen steht sie vor mir wie ein Holzschnitt aus Dürers großer Passion. Aber es ist eine alte Erfahrung, daß das größte Gefühl, auch das größte Leiden stumm ist. Und ich habe sicher mehr gelitten als dieser Poet Oscar Wilde, der seinen Schmerz mit dem eigenen Staube dieses Schmerzes zu facettierten Diamanten schleift und zu einem Ausdruck von oft einfacher, oft blendender Schönheit. Ich habe mehr ausgestanden, und doch habe ich, außer bei den Nachrichten vom Tode meiner Eltern, keinem Zuschauer den Anblick meiner Leiden gegönnt, und weinen konnte ich auch einsam nicht. Wilde hat Recht: hätte ich es können, wäre mir der Tag leichter geworden. / Freilich: Oscar Wilde beglaubigt seinen unzerstörbaren Wert, seine Würde [...] selbst auch dann, wenn er den Eindruck eines zertretenen Wurms macht. Wenn die Mauern des Zuchthauses von Reading in Trümmern liegen werden, wird der Glanz des Ausdrucks, den Wilde für das Leiden des Lebens in jenem Hause geprägt hat, jenen Trümmern noch eine düster-schöne Weihe geben und sie zugleich mit dem letzten Glanz einer sinkenden Sonne bestrahlen. Und wenn dieser Zertretene sich auf den Markt stellt und die Falten seiner Zuchthausjacke von den Striemen darunter hebt und das rote Blut zeigt, das daraus rieselt, – es ist doch ein erhabenes, majestätisches Orange in diesem kläglichen Schauspiel, dem Untergang eines glänzenden Geistes. / Mag seine Schwäche, der ‚Erdenrest, zu tragen peinlich‘ [Faust II, V. 11954f.] sich verraten, wenn er zum Tode seiner Mutter schreibt: ‚Ihr Tod überwältigte mich so, daß ich – einst ein Herr und Meister der Sprache – nicht Worte finde, meinen Kummer und meine Beschämung auszudrücken: niemals, nicht einmal auf dem Gipfel meines Künstlertums, wäre ich imstande gewesen, einen so hehren Schmerz in geziemende Worte zu kleiden und für das purpurne Schauspiel meines unaussprechlichen Wehes den gebührend erhabenen Wohllaut aufzubieten‘: mag das für den Moment und diesen Gegenstand selbstgefällige Geziertheit, Schwulst und Unechtheit verraten, der wäre doch ein gemeiner und öder Mensch, der es benützen wollte, um die Ursprünglichkeit und tiefe Schönheit der Quellen zu lästern, die Wildes Buch De Profundis zu Tage strömen läßt. / Vielleicht kann auch ein ‚Unerfahrener‘, also außer mir auch sonst noch jemand, an dem Buche erkennen, was die Seele Oscar Wildes gewonnen hat in der Einsamkeit, was an diesem Manne die Einsperrung gewirkt hat. Ich entdecke die eingegrabenen Merkmale, die das ‚Temperament‘, die Naturanlage zum ‚Charakter‘ prägen, überall. Aber wer bereit wäre, aus diesen Wirkungen das Zuchtmittel und Strafmittel der langen Einsperrung zu rühmen, der vergäße, daß Wilde als ein Sterbender aus dem Zuchthause zurückkehrte, daß sein Buch De Profundis selbst verrät, wie untauglich für das Leben er geworden war, eben durch die Wirkungen dieser Strafe. Und wer Wildes eigene Meinung von der Gefängnisstrafe kennen lernen will, findet sie in De Profundis ebenso wie in den beiden anderen Schriften. [...]“ ● Hans Leuss / Leuß (1861 – 1920) war ein Journalist, freischaffender Schriftsteller und Politiker [zuletzt Regent von Mecklenburg-Strelitz]. 1894-1898 verbüßte er wegen Meineids in einem Scheidungsprozeß eine 3½-jährige Gefängnisstrafe. Sie bildete den Erfahrungshintergrund für Leussʼ Hauptwerk Aus dem Zuchthause: Erstveröffentlichung 1903; 2. Aufl. 1903; 3. Aufl. 1904; gekürzte Volksausgabe 1907.

W., ‚De Profundis‘, Protestantenblatt: Wochenschrift für den deutschen Protestantismus (Bremen / Berlin), Nr. 23, 03.06.1905, 266-267: „Sympathisch wird dieses Buch wenigen Lesern sein, aber man wird ihm unter den Dokumenten unserer Zeit einen hervorragenden Platz anweisen müssen. Der Verfasser war in Deutschland wenig bekannt, als sein furchtbares Schicksal die Augen der Welt auf ihn lenkte. Der gefeiertste Dichter des modernen England, der Liebling der höchsten Aristokratie Londons, wurde wegen perverser Sittlichkeitsvergehen zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Das vorliegende Buch ist im Zuchthaus zu Reading geschrieben, wo der Dichter den letzten Teil seiner Strafe abbüßte und sich zuletzt einer etwas milderen Behandlung erfreute. Es enthält keinen ausführlichen Bericht über das Leben dort oder über die frühere Lebensgeschichte, überhaupt wenig Biographisches und das wenige nur andeutungsweise; es berichtet vielmehr im wesentlichen von den Gedanken und Stimmungen, die Wilde hinter den Kerkermauern erfüllt haben, und über schriftstellerische Zukunftspläne, die sein rastlos schaffender Geist hier entwirft. [...] Das unerhörte Schicksal hat seine Seele, die einst wie ein Schmetterling gaukelte, vollständig verwandelt. W[ilde] findet dafür ergreifenden Ausdruck. Aber – das ist das Eigenartige an dem Buche – dieser innere Umschwung ist kein ethischer; mit Bewußtsein bleibt der schwergeprüfte Dichter im Ästhetischen. Sein schweres Geschick hat ihm das Auge geöffnet für die Schönheit des Leides, an der er früher achtlos vorüber gegangen ist. ‚Das Leid ist das Zarteste in aller Schöpfung‘ (S. 5). Das Leid ist das Mittel in der Hand der Liebe, um die Schönheit der Seele zu vollenden. [...] ‚Die Freude ist für den schönen Körper da, der Schmerz für die schöne Psyche‘ (S. 36 f.). [...] Es ist die Schönheit des Ethischen, die den schönheitstrunkenen Dichter hinreißt. Und diese Schönheit vermag er in einer entzückenden Weise zu schildern. [...] ▪ Einen großen Teil seiner Aufzeichnungen hat W[ilde] seinem Verständnis der Person Jesu gewidmet. Erst im Zuchthaus ist er ihm begegnet. [...] Man kann nicht sagen, daß W[ilde] eine ganz neue Auffassung Jesu vortrüge. Sein Leben ist ihm ein Idyll mit tragischem Ausgang (S. 46f.) – das ist Renan, dessen Leben Jesu W[ilde] das anmutige fünfte Evangelium nennt. Jesus hat dargetan, ‚daß gar kein Unterschied zwischen dem Leben der anderen und unserem eigenen Leben besteht‘ (S. 53) – das ist Tolstoi. Aber ganz eigenartig ist doch, wie W[ilde] die Person Jesu rein ästhetisch würdigt. Christus gehört unter die Dichter (S. 44). Sein ganzes Leben ist das wundervollste Gedicht und zeigt, wie falsch der Ausspruch des Aristoteles ist, der Anblick eines schuldlos Leidenden sei unausstehlich (S. 45). In den Wirkungen, die von Christus ausgehen, gleicht er völlig einem Kunstwerk. [...] ▪ Doch genug der Anführungen, die doch von dem eigenartigen Reiz der Darstellung W[ildes] nur einen schwachen Eindruck erwecken können. Ich nannte anfangs das Buch W[ildes] wenig sympathisch. Man wird dabei das fatale Gefühl nicht los, daß bei allʼ den ernsten und schweren Worten der tiefgefallene Dichter nicht aufhört, sich in Pose zu werfen. Das würde ja seiner rein ästhetischen Weltanschauung nur entsprechen. Ich glaube nicht, daß man W[ildes] De Profundis mit den beiden großen Bekenntnisbüchern der Weltliteratur nur entfernt vergleichen kann. Es reicht nicht von ferne an Rousseaus beinahe zynische Rücksichtslosigkeit der Selbstbloßlegung, noch gar an Augustins heiligen Gewissensernst heran. Aber für die Geistesgeschichte unserer Zeit wird es eines der wertvollsten Dokumente bleiben und Beachtung finden, wenn der größte Teil der zeitgenössischen Literatur längst vergessen sein wird. Und vom ästhetischen Standpunkt aus wird es stets ein anziehendes Schauspiel sein, zu sehen, wie der unsagbar harte Schicksalswechsel den Dichter wohl körperlich brechen konnte (er starb bald nach der Entlassung aus dem Zuchthaus), wie aber die ewige Dämmerung des Zuchthauses den Glanz seines Geistes nicht im geringsten auszulöschen vermochte, ja, wie er imstande ist, sogar das stumpfe Leid künstlerisch zu verklären und damit zu überwinden. Daß er dabei ganz nahe an den Eingang des Himmelreiches herankommt und doch die Pforte der wahren μετάνοια, der sittlichen Umwertung aller Werte, nicht findet, gibt dem Buche W[ildes] für das christliche Gefühl den Charakter einer erschütternden Tragik.“ ● Über den Autor ist nichts weiter vermerkt, als daß er aus Dresden stammt.

Gustav Landauer, ‚De Profundis‘, LE, Bd. 7, Nr. 19, 01.07.1905, 1442-43: „Wildes Gefängnisbuch gehört zu den erschütterndsten und stolzesten Offenbarungen des menschlichen Geistes. Dem Dichter ist es aus dem Leiden an sich selbst und der Freude über sich selbst, der Seelennot und dem Selbstgefühl geboren worden. Es geht ein wundervoller Ton hindurch, voller Milde und Kraft. An manchen Stellen findet man eine gewisse Überreiztheit, ein gewisses Nichtschweigenkönnen und Redenmüssen, Schönredenmüssen; man weiß wohl, daß dies eine Folge der Gefängniseinsamkeit, eine fieberhafte Reaktion gegen die Depression und die Sprachentwöhnung ist. Wenn man bedenkt, daß die Aufzeichnungen gegen das Ende einer langen, schweren Gefängniszeit geschrieben sind, ist man erstaunt, wie wenige Stellen einem diesen Eindruck des physiologisch Unnormalen machen. Nicht nur im Inhalt, auch in der Form hat der Künstler und die geistige Kraft über das Elend und die Qual gesiegt. / Mir ist es, obwohl es mir persönlich ebenso fremd ist wie anderen, die daran Anstoß genommen haben, sympathisch und rührend, wie Wilde ohne jedes genierliche Gefühl davon spricht, daß er Tag für Tag in dieser Gefängniszelle geweint hat. Hat man sich schließlich in die antike Unschuld gefunden, mit der er in seinen besten Stunden sich über die Formen seiner geschlechtlich-ästhetischen Freuden und Lüste äußert, so mag man wohl auch seine Tränen ebenso hinnehmen wie die Schreie des Philoktet. [...] Da der Dichter immer einer ist, der über die Welt der Tatsachen hinausgeht, entweder als Beschaulicher, der die Wirklichkeit schmückt und verschönt und zum Kosmos erhebt, oder als Leidender, der aus seiner Sehnsucht eine neue Welt schafft und seine Grundtriebe zum Kosmos erhebt, muß er eine andere Form der Tapferkeit haben als der Held und muß er immer irgendwie sein, was der Normale eine problematische Natur nennt. [...] / Aus dem Hineinwachsen des phantastischen Grundtriebs in die Lebensführung, das heißt also, aus der Echtheit und Größe seines Künstlertums erklärt sich alles, was einen da und dort an Wildes Lebensführung stören mag, womit ich für mein Teil nicht seine großen Exzesse der Nacktheit, sondern seine kleinen der Kleidung meine. Dieser phantastische Grundtrieb hat ihn auch zu seiner letzten Erkenntnis gebracht: daß die Phantasie, wenn sie ins Höchste kommt, Liebe und Einsfühlen mit der Welt und der Menschheit wird; und daß äußerste Menschenliebe und Mitgefühl nichts anderes ist als die Phantasie des künstlerischen Menschen. Darin hat er in seiner bitteren Zeit seine Ruhe und seine Beseligung gefunden: daß was ihn zu den schönen Leibern zweifelhafter junger Menschen trieb und was ihm seine Salome und seine Gedichte eingab und was einen himmlischen Menschen wie Jesus erfüllte, alles eins sei und dasselbe: Liebe, die sich selber sucht; die Welt, die zu sich kommen will. Da die Welt nicht eins ist, kann sie eins werden nur in der Umarmung und in dem Wahne. Die Geschlechtlichkeit des bedürftigen Menschen, die Phantasie des Künstlers und die gestaltende und verwandelnde Liebe: alles Formen des Geistes, der, was ihm ewig fremd ist, ewig erobern und als eigen besitzen will. Darum können wir stolz sein auf Oscar Wilde, und darum ist er ein Repräsentant unserer Generation: weil er alles in Geist verwandelt hat; weil er sich mit Kraft und Innigkeit zu sich selber bekannt hat, weil er in allem, in allem Erleben seiner Triebe und seiner Gedanken nie sich allein, immer die ganze Welt miterlebt hat. Darum ist dieses Buch, wenn uns beim Lesen auch manchmal Tränen der Rührung ankommen mögen, die ja nicht schwer wiegen, ein solches, das uns schließlich die Gefühle der Erhobenheit [sic] und reiner Freude schenkt. / Das Buch ist auch in englischer Sprache, wie Wilde es geschrieben hat, erschienen (bei Methuen & Co., London). Verstümmelt ist es in beiden Ausgaben; in der englischen natürlich etwas mehr: aber was die deutsche mehr hat, ist fast immer aus dem Zusammenhang gerissen, so daß einem im Original das Fehlende nicht so erbarmungslos weggerissen wird, wie in der Übersetzung. Die Übersetzung ist vielfach gut, trifft aber den wunderbaren Stil Wildes nicht überall fein und sicher genug, vor allem, weil Wildes Satzbau nicht genügend nachgebildet wird. Auch ist der Übersetzer an einigen Klippen der Erkenntnistheorie und platonisch-spinozistischer Ausdrucksweise, die beide Wilde sehr geläufig waren, gescheitert. Doch ziehe ich vor, hier keine Einzelheiten anzukreiden, da wir es Herrn Dr. Meyerfeld aller Wahrscheinlichkeit nach überhaupt zu verdanken haben, daß dieses Dokument der Öffentlichkeit übergeben wurde. Da es sich um ein Buch handelt, das bleibt, wird hoffentlich die vielfach verbesserte – und vermehrte – Auflage nicht lange auf sich warten lassen.“

J[akob] J[ulius] David, ‚De Profundis‘, Nation (Berlin), Bd. 22, Nr. 41, 08.07.1905, 652-653: „Es ist neuerdings die Ansicht ausgesprochen worden, Oscar Wildes De Profundis, deutsch von Max Meyerfeld, Verlag von S. Fischer in Berlin, sei kein Bekenntnisbuch. Die Aufzeichnungen und Briefe aus dem Zuchthaus in Reading seien vielmehr ironisch zu nehmen; Wilde hätte in ihnen eine neue, verblüffende Maske vorgenommen, wie er’s liebte, in Masken gehüllt durchs Leben zu schreiten. Der Mann nun, der diese Meinung vertritt, hat Geist für viele und überdies sicherlich die Fähigkeit, auch eine verwickelte Persönlichkeit durchzuschauen und zu erklären. Nur ist es für Bernard Shaw ein Bedürfnis, zu verwirren; ihm ist die ironische Betrachtung des Weltlaufes das stärkste Mittel der eigenen Wirksamkeit. Was man selber kann und übt, das sucht man gern auch bei anderen nachzuweisen, die einem teuer sind. Wahrscheinlich ist aber die Auffassung Shaws nicht. Was ich von Wilde kenne, ist ja nicht gar viel. Aber, es hat mir immer so geschienen, als hätte der Engländer eine große Freude am Pathos, an Feierlichkeit, an einer gewissen, verhüllenden Dunkelheit. Er gefiel sich im Prunk des Lebens und freute sich also auch am feierlichen, geschmückten, gewichtigen Wort, das hinter dem offenbaren noch einen geheimen Sinn in schleiernden Hüllen verbarg. / Nun war ihm überdies ein Umschlag des Schicksals verhängt, so jäh und schrecklich, wie er noch selten über einen Sterblichen hereingebrochen ist. [...] Ein unerhörter Umschlag! [...] Man sieht – hier ist eher Sentimentalität, als Ironie. Es ist ein im Grunde weicher Mensch, dem so übel mitgespielt wird, der die ganze Rückständigkeit des Strafvollzugs und des Strafhauswesens in England so schmerzlich am eigensten Leib erfahren soll. [...] ‚De Profundis clamo ad te, Domine! Exaudi me in Excelsis!‘ Eine erschütternde Weise, die durch das ganze Buch klingt. Ein Mann, der sich überstark gefühlt; der mit seinen Händen alles zwingen zu können geglaubt und sie nun, sehnsüchtig nach einem warmen Gegendruck, ausstreckt ins Leere, das seine Reichtümer und seine Schätze verschlungen; der glücklich ist, wenn er die geisternde Berührung dessen zu spüren meint, der am meisten gelitten, das reinigende Blut jener Wundenmale über sich rieseln spürt, die für alle Menschheit und ihre Fehle geschlagen wurden. Es ist keine Ironie in De profundis. Aber erschüttert fühlt man sich oft und angeweht vom Odem des Leides, das die Seelen formt wie Wachs und sie zu ungeahnten Zielen führt.“ ● Jakob Julius David (1859 – 1906) war ein österreichischer Journalist und Schriftsteller.

Alois Brandl, ‚Oscar Wilde, De profundis‘, Archiv für das Studium der Neueren Sprachen und Literaturen, Jg. 59, Bd. 115 (N.S. 15), Sommer 1905, 235-236: „In der großen Reihe von Autobiographien, die in England von Johann von Salisbury bis zur Gegenwart geschrieben wurden, ist dies vielleicht die merkwürdigste, gewiß die geistreichste. Für die Merkwürdigkeit sorgte in erster Linie das Erlebnis des Autors; kein englischer Dichter hat jemals, wie er, wegen eines Sittenvergehens im Zuchthause gesessen, nachdem er vorher der verwöhnte Liebling der feinen Welt gewesen. Aber noch auffälliger ist der starke Mut zum Leben, zum Schaffen, ja zum Ruhme, mit dem der Sträfling, die Hände noch wund vom Säckenähen, hier vor Mit- und Nachwelt tritt. Seine Schrift ist nicht so sehr eine Erzählung als vielmehr eine Reihe Reflexionen zur Selbstaufrichtung, untermischt mit brennenden Augenblicksbildern aus seinem Vorleben, seiner zweijährigen Haft und der Gerichtsverhandlung, eingestreut aufs Geratewohl und mit wenigen, tief subjektiven Worten hingeworfen. Man sieht, ohne daß es ausdrücklich festgestellt wird, wie der ganze Sinn Wildes in der ästhetischen Richtung der siebziger Jahre wurzelte; Paters Renaissance hat den seltsamsten Einfluß auf ihn gehabt (S. 28); nur Künstler, nur Schönheitskenner wollte er um sich haben; von der Frucht aller Bäume im Garten der Welt gelüstete ihn zu essen. In solch schrankenloser Genußfreude wuchs sein Individualgefühl nicht bloß in die Höhe, sondern wild ins Kraut; die unmittelbare Folge davon hat er selbst in die frappanten Worte gekleidet: ‚Was mir das Paradoxe in der Sphäre des Denkens war, wurde mir das Perverse im Bereich der Leidenschaft‘ (S. 14). Er macht also kein Hehl aus der Verirrung, in die er mit dem Sohn des Marquis von Queensberry verfallen war; doch nicht das Urteil der Philister, der gegen Schönheit Gleichgültigen, erkennt er an; diese Leute deuten auf das Zuchthaus in Reading und sagen: ‚Dahin führt einen Menschen das Künstlerleben.‘ Einsichtiger und milder, meint er, würde Jesus über ihn gesprochen haben, denn seine Religion sei eine der Schönheit, sein Wesen individuell wie das keiner anderen Persönlichkeit. Und hiermit beginnt Wilde einen Hymnus auf das Neue Testament, das viel seelischer sei als die Mythologie der Griechen mit ihrem grausamen Apoll. Die geistreiche, ja bizarre Seite des Büchleins ist hier am stärksten ausgeprägt; Wilde bringt es fertig, den Natursinn des Franz von Assisi in sein System einzureihen und selbst den ‚Taciteischen‘ Ernst des Dante. In einem der angehängten Briefe an seinen Freund und Testamentsvollstrecker Robbie (Robert Ross) stellt er eine Liste der Bücher auf, mit denen er, sobald in Freiheit gesetzt, ein neues Leben anheben möchte: Flaubert, Stevenson, Baudelaire, Maeterlinck, Dumas père, Keats, Marlowe, Chatterton, Coleridge, Anatole France, Gautier, Dante und die ganze Literatur über ihn, Goethe und die ganze Literatur über ihn; dem letzteren zuliebe nimmt er sich vor, wieder Deutsch zu lernen. Es ist ein höchst bestechender und etwas verzweifelter Versuch, sich aus dem Sumpfe auf die Planke des Übermenschen zu retten, mit bemerkenswerter Neuerung gegenüber St. Augustin, der sich durch Selbstanklage und Zerknirschung auf den Überchristen hinausspielte. Die Schrift wird sich wegen dieses kunstphilosophischen Hintergrundes unter den hervorragenden Autobiographien der Welt dauernd einen Platz bewahren. ● Ungewöhnlich ist auch die Art ihres Erscheinens. Sie kam zuerst ‚made in Germany‘ heraus, in der sorgfältigen Übersetzung des als Essayisten bekannten Dr. Max Meyerfeld, der mit Gewissenhaftigkeit den Inhalt und auch den Stil des Originals zu bewahren trachtete. Vielleicht könnte der Ausdruck manchmal schlagender und kühner sein. [...] Aber welcher Übersetzer hat es noch jedem recht gemacht? Danken wir ihm lieber für die knapp und taktvoll orientierende Einleitung, sowie für die angehängten Briefe, die das Ganze zu einer praktischen vita nuova ergänzen und abrunden. Anders ging der brave Ross vor, der im Februar 1905, zwei Monate nach der deutschen Ausgabe, die englische folgen ließ. Ross hat vor allem eine Menge unterdrückt. [...] Das Mißlichste jedoch sind die positiven Änderungen, die er, ohne es zu vermerken, am Texte vornahm. So sagt Wilde bei Meyerfeld (S. 4), daß seine Frau ‚in jenen Tagen sehr gütig und liebenswert‘ war; bei Ross hingegen lesen wir: ‚my wife, always kind and gentle to me‘ (S. 14). Daraus folgt: niemand darf das Denkmal benutzen, ohne bei jedem Satze Meyerfelds Übersetzung nachzuschlagen. Zwei Drucke werden ausgeboten: der eine vielfach untreu in bezug auf den Inhalt, der andere in fremder Sprache. Wahrhaftig, die Verlegenheit von R. Ross erinnert an die von Thomas Moore, als er die nachgelassenen Tagebücher Byrons herausgeben sollte. England hat kein Glück mit seinen autobiographierenden Dichtern, diese hinwieder haben wenig Glück mit ihren Herausgebern. Gut ist es, daß Shakespeare seinen Lebensroman in Sonetten beschrieb, die sich in poetisch umflorten Bildern bewegen und zur Not sogar allegorisch deuten oder doch deuteln lassen; und mit Genugtuung sehen wir einen deutschen Schriftsteller als unbefangenen Verbreiter und Verfechter von Wildes Kunst, so zwar, daß seine Übersetzung von Wildes Duchess of Padua, deren Original nicht erscheinen darf, von den Engländern in einer Rückübersetzung aus dem Deutschen gelesen werden muß.“

Arthur Sewett, ‚Oscar Wilde: De Profundis‘, Deutsche Monatsschrift für das gesamte Leben der Gegenwart, Bd. 9, Nr. 2 (Nov. 1905), 226-231: „[...] Verschieden ist die Beurteilung, die dieses Werk bei der Kritik gefunden. Der größere Teil schätzt es hoch ein, nennt es ein Buch, das man als Seelenanalyse einst vielleicht über alle Bücher unseres Kulturstaates stellen wird, rühmt vor allem die Wahrhaftigkeit und Echtheit seines Schmerzes. Ein kleinerer Teil, unter ihnen aber der Bedeutendsten Einer, Bernard Shaw, Wildes Lands- und Zeitgenosse, nennt dasselbe Buch eine ‚Meisterkomödie‘, wie sie noch kein anderer Irländer hervorgebracht hat: [...] Wie stellen wir uns zu so entgegengesetzten Urteilen? Hat der überlegene Bernard Shaw recht? Ist Wildes großer Schmerzensruf im letzten Grunde eine Pose? [...] Ganz von der Pose ist De Profundis nicht freizusprechen. Schon sein blühender, oft bombastisch ausklingender Stil, sein ewig wiederkehrendes Aufwühlen des Schmerzes, sein Spielen mit Worten, die dasselbe sagen, hat das Gespreizte der Pose. [...] Trotz dieser Pose halte ich sein Buch für das Werk eines großen Dichters, für ein Dokument von erschütternder psychologischer Kunst. [...] Was Wilde bis dahin phantastisch gefühlt und ästhetisch gestaltet, oft ohne es zu erleben, das ist im Zuchthause zu Reading zum Erlebnis geworden. Die Phantasie machte ihn zum Dichter, aber das Erlebnis erst zum Menschen. Das Schicksal gestaltete hier den Menschen, aber – der Mensch gestaltete zugleich sein Schicksal. Denn mag Wilde als Künstler und als Persönlichkeit noch so viel gefehlt und geirrt haben, ein großes Verdienst ist ihm zu eigen, und niemand soll es ihm nehmen: er hat sein schweres Schicksal nicht, wie es die meisten tun, wie eine dumpf-unabwendbare Last resigniert getragen, er hat sich nicht in titanenhaftem Trotze gegen das, was ihm auferlegt war, emporgebäumt und sich noch weniger von seiner Wucht erdrücken und zermalmen lassen, er hat das beste getan, was der Mensch seinem Schicksal gegenüber vermag: er hat es verwirklicht und verinnerlicht, er ist in dieses Schicksal langsam, kämpfend, verzweifelnd hineingewachsen. Das Dokument dieser Kämpfe ist De Profundis, der erschütternde Gesang vom Zuchthaus zu Reading, das Buch von der Erlösung der Kreatur, die, bange um ihre falsche Gottähnlichkeit, im Leid und seiner Überwindung den Hauch des wahren wie das Frühlingswehen eines neuen Lebens erfährt.“ ● Arthur Sewett war ein Pseudonym des evangelischen Pfarrers und Romanschriftstellers Artur Brausewetter (1864 – 1946).

Alois Wurm, ‚De Profundis‘, Literarischer Handweiser zunächst für alle Katholiken deutscher Zunge (Münster), Jg. 44, Nr. 7/8 (10.04.1906), 299-300: „[...] Bedauern mit dem Unglücklichen ist der Eindruck, den man von diesen Aufzeichnungen bekommt; Bedauern mit der zerrissenen Seele, die bei allen Schrecken des Kerkers doch am meisten dadurch gequält wird, daß sie die Schuld an allem ihrer eigenen Erniedrigung zuschreiben muß. Es ist keine sittliche Reue; es ist der Abscheu des Geistes-Aristokraten vor dem Gemeinen, des schönheitsdurstenden Ästheten vor der nun hervortretenden Häßlichkeit der Tat und ihrer Folgen, des Inhabers eines berühmten Namens vor der Verfemung der Gesellschaft. [...] Der andere tiefste Stachel war die Schmutzigkeit und Gemeinheit seines Geschickes, die Abwesenheit aller Größe und Schönheit, an der sich sein Stolz berauschen könnte. Ohne Schönheit kann aber Wilde nicht leben. Darum muß ihm durch die Reue auch die Sünde zur Schönheit werden. Die höchste Schönheit ist ihm das Leben und der Tod Christi. Schönheit ist ihm identisch mit Religion und Moral: soweit blieb Wilde auch im Kerker noch der alte; nur daß jetzt eine neue Hälfte der Welt, die des Leidens, in den Kreis der Schönheit trat. – Man fühlt deutlich, – und auch der Dichter ahnte es, wie besonders die Briefe zeigen – daß diese Philosophie keinen Panzer gegen die Pfeile des kommenden Lebens bilden konnte. So ist es auch gekommen. Ihn überlebt dieses eigenartige Denkmal voll gewählter Poesie, voll tiefer und schöner Gedanken, voll des edlen Ringens, auf den Trümmern seines zerstörten Lebens den Bau einer vita nuova aufzuführen.“ ● Alois Wurm (1874 – 1968) war ein katholischer Theologe, Schriftsteller und Publizist.

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1907

Aus toten Tagen (Memoirs of my dead life). Novellen von George Moore. Deutsch von Max Meyerfeld. Berlin: Egon Fleischel & Co. 1907. 365 S.

George Moores Novellensammlung, im englischen Original zuerst veröffentlicht 1906. (Gilcher D:Ge-11.)
Inhalt: Thema mit Variationen. – Der Blumengarten der Normandie. – Eine Kellnerin. – Marie Pellegrins Ende. – La Butte. – Verflossene Liebschaften. – Ninons Tafelrunde. – Liebesleute in Orelay. – Im Luxembourg-Garten. – Ein Gedenkblatt. – Bringen Sie die Lampe. – Sonntag Abend in London. – Resurgam.

Selbstanzeige Meyerfelds im LE, Bd. 10, Nr. 6 (15.12.07), 444-445: „Dies Buch ist ein Lobgesang auf Paris; eine Glorifizierung der Kunst; eine Apotheose der Weiber. Paris, ville lumière – man glaubt bisweilen, den zweiten Akt der Louise von Charpentier zu hören. Die Kunst – Verlaine, Rimbaud, Villiers de l’Isle-Adam, Manet, Monet werden eingeführt; von einem, der sie persönlich kannte, der mit ihnen befreundet war, der ihnen wahlverwandt ist: hat manche Skizze nicht die Leichtigkeit und Anmut eines monetschen Bildes? Die Weiber – ‚Lieber Gott, wie dankbar müssen wir dafür sein, daß du einen Unterschied gemacht hast zwischen Mann und Frau! Was wäre doch die Welt für ein Jammertal geworden ohne die Geschlechter – was wär all ihre Romantik und Eselei!’ Am Anfang seiner Laufbahn schrieb George Moore Bekenntnisse eines jungen Mannes; nun klagt er, aus toten Tagen plaudernd, daß es immer jüngere Männer gibt. Doch ‚die Herbstliebe ist tiefer, sie ist mit Erinnerungen beschwert.’“

Rezensionen: Stefan Zweig im LE, Bd. 11, Nr. 23 (01.09.09), 1691: „Dies ist das erste Buch von George Moore, das ich gelesen habe. Ich weiß, George Moore ist der Dichter großer und – wie ich überzeugt bin – sehr wertvoller Romane, zweifellos eine der interessantesten Erscheinungen des heutigen England. In diesem Buch aber habe ich noch nicht den Dichter kennen gelernt, sondern nur einen der feinsten und spirituellsten Kulturmenschen unserer zeitgenössischen Literatur, einen jener Wahlfranzosen, wie sie England so häufig hervorgebracht hat. Swinburne war einer, Oscar Wilde und Arthur Symons wurden solche Flüchtlinge aus der moralischen und nüchternen Welt ihrer Heimat in die heitere, lebendigere und sinnenfreudigere Atmosphäre Frankreichs. Denn je mehr wirkliches Kulturbedürfnis in einem Engländer steckt, um so weniger kann er sich mit den konventionellen Normen britischer Wohlanständigkeit, der kühlen Gleichgültigkeit des common sense und der rigorosen Moral der englischen Leser befreunden. Aus dem Buche George Moores atmet eine schwärmerische Liebe für Paris, für die französische Vergangenheit, das leichtfertige Jahrhundert, für den Impressionismus der modernen Künstler, den Stil des Lebens, für die wunderbare Leichtigkeit der Empfindung, die auch in der eigenen Diktion, in der Beweglichkeit und funkelnden Ironie dieser novellistischen Erinnerungen reflektiert. […] Lebenskunst, eine ganz unenglische, fein sinnliche, sehr erotische Lebensfreude atmet aus seinen beflügelten Zeilen, die man mit Entzücken liest. […] Immer spürt man einen vortrefflichen Plauderer, einen klugen, geistreichen unenglischen Menschen hinter jeder Zeile und auch, freilich ganz verborgen und versteckt, einen Dichter. Zweierlei Neugier geht von der Lektüre dieses Buches aus. Die eine nach den Romanen George Moores und die freilich größere nach dem Menschen selbst, der so mit leichter Hand und einer sicherlich nicht geheuchelten Unachtsamkeit von dem Reichtum eines bewegten und erfahrungsreichen Lebens herschenkt. Und so wird dieses Buch der Erinnerungen, das – der Name Max Meyerfeld bürgt von vornherein dafür – ganz vortrefflich übersetzt ist, selbst wie eine Erinnerung an eine sympathische und wertvolle Begegnung.“ – – Hugo Alt, Die schöne Literatur, Bd. 9, Nr. 13 (20.06.08), 225-226: „Der klischémäßige Engländer ist hier ausgeschaltet, und an seine Stelle tritt ein gänzlich ungewohnter, der den Ausnahmen: Swinburne, Wilde sehr nahe kommt. Nicht, daß sein Schaffen jenem der genannten Dichter irgendwie nahe stände; nur mit seinem starken Schönheitsbegehren ist er ihnen verwandt. Das vorliegende Werk ist vor allem ein Bekenntnis. Persönliches Erlebnis wurde zum poetischen Vorwurf umgewertet, in eine unsagbar feine, wie Spitzen geflochtene Form geschlungen. Mit äußerst empfindlichen Sinnen ergreift Moore die zartesten Stimmungsbilder, die er, ehedem Maler, wie Maupassant oder noch besser Lafcadio Hearn in unnachahmlich impressionistischer Weise festhält, mit knappen, flotten, graziösen Sätzen darstellt. […] Moore, dessen Irdische und himmlische Liebe ungeteilten Beifall gefunden hat, weiß viel zu sagen, und das Gesagte ist von Bedeutung.“ – – Felix Poppenberg (1869-1915) in der NR, Bd. 19, Nr. 4 (April 1908), 600-602: „Figures et choses qui passent… das Glück der Einsamkeit und der Stille; wiegender Wellenschlag der Erinnerung […]. Aus einem Buch haucht uns solch Träumen an; kein papierener Text spricht; eine Stimme, voll Vibrationen, biegsam, voll gleitender Farbenspiele, mit halben Tönen, bringt die Metamorphosen eines Innern zum Klingen und zur Vision. Es ist wie eine moderne Tausend und eine Nacht, und Causerie wird zur Dichtung. Das Buch heißt Memoirs of my dead life, und der es schrieb ist George Moore. (Von Max Meyerfeld unter dem Titel Aus toten Tagen mit Resonanz übertragen. E. Fleischel & Co. Derselbe teilte auch Moores Erinnerungen an die Impressionisten mit, die Bruno Cassirer geschmacksicher als ein Sketchbook einkleidete.) – Ich bin verliebt in dieses Buch. Es ist ein Verführer. Es wirkt mit dem schwingenden spiegelnden Reiz des eigenen Traums und des eigenen Zwischenspiels, die gesteigert und zum Zierat gefaßt ein Künstler uns zurückgibt.“ (Zu Felix Poppenberg siehe auch MMs Skizze im LE, Bd. 22, Nr. 8 [15.01.20], 452-456.)

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1909

John Galsworthy: Der Zigarettenkasten. Komödie in drei Akten. Deutsch von Max Meyerfeld. Berlin: Bruno Cassirer 1909. VIII, 96 S.

 „Alle Rechte vorbehalten. Den Bühnen gegenüber Manuskript. Das Recht der Aufführung ist von Bruno Cassirer, Berlin W. 35, Derfflingerstraße 16 zu erwerben.“

Originaltitel: The Silver Box. A Comedy in Three Acts (1909) [ursprünglich The Cigarette Box betitelt]. – Uraufführung: 25.09.1906, Royal Court Theatre, London. – Deutsche Erstaufführung an der Wiener Volksbühne am 23.05.1914. – ‚Reichsdeutsche Uraufführung’ im Schauspielhaus zu Frankfurt a.M. am 06.06.1914.

Rezensionen: Neue Freie Presse (Wien) vom 24.05.14, S. 18: „Man gab […] zum erstenmal die Komödie in drei Akten von sechs Bildern Der Zigarettenkasten von John Galsworthy. Und es war uns, als hätten wir dieselbe Komödie doch schon vorher gesehen, vor wenigen Monaten erst, an derselben Bühne und von demselben Autor. Sie hieß damals Justiz und zeigte uns, wie ungerecht die Gerechtigkeit sein kann, wie sie vernichtet, statt aufzurichten. […] Die Komödien Galsworthys sind alle sauber und präzis gearbeitet, wie ein Uhrwerk. Man freut sich der genauen Mechanik. Aber diesmal läßt uns die Mechanik im Stich, die Handlung ist nicht zwingend und überzeugend genug konstruiert; man hört manchmal bedenklich das Gerüst knacken. Wir bekamen also […] wieder dieselbe englische Gerichtsverhandlung zu sehen, die wir von Justiz aus schon kennen, mit denselben Dekorationen und Requisiten und beinahe mit derselben Rollenverteilung. […] Das Publikum applaudierte der Tendenz; die Komödie huschte beinahe unbemerkt vorüber.“ – Richard Dohse (1875-1928), Die schöne Literatur, Bd. 15, Nr. 14 (04.07.14), 249-250: „Galsworthy versteht sich gut auf das, was das Publikum verlangt, und gibt so eine Mischung von Kunst und Handwerk, die denn auch ihre Wirkung nicht verfehlte. Halb ernst, halb heiter, ein bißchen versteckter Spott, etwas Sentimentalität, ein tüchtiger Schuß Behäbigkeit und endlich einige dramatisch bewegte Szenen, das ist die Signatur dieses in seiner ganzen Art durch und durch englischen Stückes. Gespielt wurde durchweg gut, und auch mit der Regie konnte man einverstanden sein. So gab es denn einen der Komödie entsprechenden ‚wohltemperierten’ Beifall, der dem Stück immerhin noch einige Aufführungen sichern wird.“

PS. Die Bemerkung der Putzfrau Jones „Well, sir, I have a day in Stamford Place Thursdays” (I.iii) übersetzt MM mit „Na, am Donnerstag geh ich zu Shaws“; und die „seedy-looking men and women“ im Gerichtssaal des dritten Akts (Regieanweisung) erscheinen bei MM als „Bassermann’sche Gestalten“.

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1912

Robert Anstey. Ein Akt von Max Meyerfeld. Berlin: Bruno Cassirer 1912. 83 S.

Wie man von ‚Schlüsselromanen‘ spricht, so könnte man Meyerfelds Einakter ein ‚Schlüsseldrama‘ nennen: denn hinter dem offiziell für tot erklärten und dem wegen seiner ‚absonderlichen Neigungen‘ (S. 69) gesellschaftlich geächteten Maler Robert Anstey steht unübersehbar Oscar Wilde, von dem sich viele Jahre das Gerücht hielt, daß er 1900 gar nicht gestorben sei, sondern noch lebe. – Fünfzehn Jahre hat Anstey in der Abgeschiedenheit eines spanischen Klosters gelebt und war durchaus glücklich. Nun aber zieht es ihn nach London zurück – nicht, um sich gesellschaftlich zu rehabilitieren oder ein berufliches Comeback zu versuchen, sondern um die Zuneigung seines Sohnes zu gewinnen, der, unter dem Namen Edwin Parker aufgewachsen, soeben im Begriff ist, seinen Weg in der oberen Gesellschaft zu machen. Doch Ansteys Versuch schlägt fehl: sein Sohn, dem gegenüber er sich als der engste Freund des verstorbenen Vaters ausgibt und sich Pater Sebastiano nennt, weist ihn ab und vollendet damit sein tragisches Geschick: „Ich danke Ihnen, lieber Pater Sebastiano, für die wundervolle Freundschaft, die Sie meinem Vater so selbstlos bewahrt haben. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen für dies Gespräch, das mir unvergeßlich bleiben wird. Doch ehʼ ich von Ihnen Abschied nehme, will ich Ihnen frank und frei die Antwort geben auf die Frage, die Sie vorhin an mich gerichtet haben. Wenn mein Vater heut vor mich hinträte, würde ich zu ihm sagen: fünfzehn Jahre war ich für dich nicht vorhanden. Oder wenn ich es war, hast du es mich nicht wissen lassen. Fünfzehn Jahre habʼ ich an meinen Vater kaum gedacht. Und wenn ich an ihn dachte, habʼ ich an einen Toten gedacht. Was würdest du gewinnen, wenn du jetzt Anspruch auf mich erheben wolltest? Ich kann dir nicht viel geben. Ich habe kein Verständnis dafür, weswegen du gestraft worden bist. Ich habe auch kein Verständnis dafür, daß du deswegen unmenschlich leiden mußtest. Aber ich danke Gott, daß ich nicht so bin. Wenn du mich wirklich wahrhaft liebst, beweise es mir – beweise es dadurch, daß du meine Kreise nicht störst. Nimm mir nicht, was ich mir erworben habe, was mir die Zukunft noch bietet. Warum willst du die Vergangenheit wieder aufrühren? Willst du, daß die Menschen mit Fingern auf mich deuten: das ist Robert Ansteys Sohn? Bis jetzt war ich dir gram, weil ich dich nur mit den Augen der Welt sah. Ich kannte dich nicht. Jetzt kennʼ ich dich – jetzt weiß ich: du wirst mich nicht unglücklich machen. Du kannst mein Glück nicht zertreten wollen. Das kann nicht deine Absicht sein. Im Verzichten wird sich deine väterliche Liebe zeigen. Geh, und ich werde dein Andenken segnen. – So sprächʼ ich zu meinem Vater, Pater Sebastiano. Leben Sie wohl!“ (S. 80-82).

Im Alois Brandl-Nachlaß der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln befindet sich ein Geschenkexemplar des Werkes (Signatur 4C6589), vom Autor handschriftlich signiert und seinem Doktorvater gewidmet: „Seinem Hörer ‚in a balcony‘ Prof. Brandl, frohe Weihnachten! Max Meyerfeld.“ (Archiv Bibliographia Judaica, Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, Bd. 17, Berlin 2009, S. 98). (In a Balcony ist der Titel eines Einakters von Robert Browning [1855].)

Rezensionen: Die Schriftstellerin Auguste Hauschner (1850-1924) im LE, Bd. 14, Nr. 24 (15.09.12), 1744: „Der Einakter folgt der naiven, rührenden Legende von der Rückkehr Totgesagter, wie sie sich an die Gestalten verschollener oder vorzeitig dahingeschiedener Märtyrer des Lebens knüpft. Nein – der unglückselige geniale englische Poet (Robert Anstey nennt ihn Max Meyerfeld und verwandelt ihn in einen Maler) ist nicht gestorben. Nach seiner Freilassung ist er nach Spanien geflüchtet, als Pater Sebastiano lebt er dort in einem Kloster. […] Die Gegenwart ist tot, die Vergangenheit beschmutzt… doch aus der Zukunft schimmert noch ein Licht… Edwin, der Sohn… Die Sehnsucht, dieser Lebensnerv der Seele, stählt Robert Anstey zu seinem Leidensgang. Im Mönchsgewand, die Maske vorgebunden, stiehlt er sich in den Londoner Palast der Herzogin von Eastbourne – einer Gönnerin von einst –, in dem ein Fest gefeiert wird. Robert und Edwin (der den banalen Namen Parker angenommen hat) stehen einander gegenüber. […] Zwischen ihnen trennend die abgrundtiefe Kluft der Schuld. Und der Geächtete, über den als Mensch und Künstler sich das Gedächtnis noch nicht ganz geschlossen hat, muß erkennen, daß ihm keine Stätte mehr in der Liebe seines Kindes steht. […] Nun hat Robert Anstey das letzte, schwerste Weh erfahren. Das Urteil ist über ihn gefällt.“ – Karl M. Brischar, Die schöne Literatur, Bd. 13, Nr. 17 (10.08.12), 294: „Eine erschütternde Tragödie birgt sich in den lautlos stillen Szenen von Max Meyerfelds Robert Anstey, in deren Mittelpunkt die Gestalt des berühmten Malers Anstey steht, in dessen Schicksal der Dichter das Oscar Wildes verkörpert. Das Drama Meyerfelds setzt in dem Augenblick ein, da der von aller Welt Geächtete als Pater Sebastiano, nur von seinem Freunde Morton erkannt, heimkehrt, um seinen Sohn Edwin, der unter dem Namen Parker erzogen wird, in die Arme zu schließen. Dieser aber weist den in der Verkleidung für seinen Vater um Liebe Werbenden schroff zurück. Er will seine Jugend, seine gesellschaftliche Stellung nicht durch den Makel, der auf seinem Vater lastet, zerstören lassen. Gebrochen zieht Pater Sebastiano von dannen, ohne sich seinem Sohne zu erkennen gegeben zu haben.“

Uraufführung am 16.12.1912 in den Frankfurter Kammerspielen, zusammen mit zwei weiteren Einaktern: Max Mell, Barbier von Berriac und Edmond Rostand, Der Götterhain: „Das Publikum nahm die verschiedenen, nur in ihrem geringen Wert einigermaßen gleichen Kunstprodukte mit anscheinend gemischten Gefühlen und, dem entsprechend, maßvollen Beifallsäußerungen auf.“ (FZ, 17.12.12, Nr. 349).

*****

[Typoskript]. Marksteine - [handschriftlich korrigiert zu Meilensteine]. Lustspiel in drei Akten - [handschriftlich korrigiert zu Drei Akte] von Arnold Bennett und Edward Knoblauch. [Deutsch von Max Meyerfeld]. o. O., o. J. [1912]. Unpaginiert. [Theatersammlung der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg].

Die Plazierung des Typoskripts unter den „selbständigen Veröffentlichungen“ erfolgt zugegebenermaßen faute de mieux, wenn auch erwähnt werden soll, daß MM sich seinerzeit um eine reguläre Veröffentlichung durch einen Verleger bemüht hat (s. Edward Knoblauchs Brief an Meyerfeld vom 02.10.1912 [University of Rochester, N.Y.]). – Bei dem „Lustspiel“ bzw. „drei Akten“ handelt es sich um die Übersetzung von Arnold Bennetts und Edward Knoblauchs Koproduktion Milestones, die am 05.03.1912 am Royalty Theatre in London uraufgeführt wurde, fast zwei Jahre auf dem Spielplan stand und die den größten Theatererfolg der beiden Autoren darstellte. (Buchveröffentlichung im Jahr der Uraufführung unter dem Titel Milestones: A Play in Three Acts). – Wie aus den Briefen Knoblauchs an MM aus dem Jahr 1912 hervorgeht (University of Rochester, N.Y.) und wie eine Notiz in der NZZ vom 07.09.1912 belegt, war für die Erstaufführung ursprünglich das Wiener Burgtheater vorgesehen: „Meilensteine, 3 Akte von Arnold Bennett und Edw. Knoblauch, für die deutsche Bühne bearbeitet von Max Meyerfeld, ein Stück, das in der englischen Originalform (Milestones) den größten Bühnenerfolg der letzten Londoner Theatersaison bildete, gelangt im November am Wiener Burgtheater zur ersten deutschen Aufführung.“ Die Gründe, warum es dann doch nicht zu dieser Aufführung kam, sind mir nicht bekannt. Fakt ist, daß die Erstaufführung am 30.09.1913 im Thalia-Theater Hamburg stattfand, wo das Stück – dem Deutschen Bühnen-Spielplan zufolge – in der Spielzeit 1913/1914 insgesamt vierundzwanzigmal gegeben wurde.

Rezensionen: Altonaer Nachrichten, 1. Oktober 1913, Abendausgabe, Nr. 460: „Thalia-Theater: Meilensteine, Lustspiel in 3 Akten von Arnold Bennett u. Edward Knoblauch. – Ein altes Gleichnis … Das Leben des Menschen ist wie eine lange Straße – aus der Ferne der Vergangenheit kommend, in die unabsehbare Zukunft sich verlierend! Weite Wege ist die Menschheit durch Jahrhunderte gegangen, verwundert nach dem Zurückgelegten sich umschauend, an der Gegenwart unbewußt schleppend, in scheuer Angst und Ehrfurcht dem Kommenden sich nähernd. Wer weiß von dieser Straße den Anfang und das Ziel, wer kennt die Länge? Ohne Maßen, anfanglos und endlos streckt sie sich hin. Aber trotz des Unmeßbaren haben die Menschen Zeiten und Strecken bezeichnet, abgeteilt in Jahre und Meter, und auf diese Weise Abschnitte gefunden. Das sind die Meilensteine unserer langen Geschichte, an denen wir unser Wandern ablesen können … An drei solcher Meilensteine, um je 25 Jahre Leben und Anschauung von einander entfernt, zieht im Lustspiel eine Familie vorbei. – 1860. John Rhead und Samuel Sibley besitzen zusammen eine große Eisenhütte. Wechselseitig haben sie sich mit ihren Schwestern verlobt, John mit Rosie Sibley, Sam mit Gertrud Rhead. Aber die Beziehungen der beiden Kompagnons sind nicht die besten. John ist der talentvolle Feuerkopf, dem die Zukunft weite Aussichten und Erfolge darbietet, Sam ist der altmodische, zögernde Mensch, der an dem Hergebrachten ängstlich festhält. Eben ist eine neue Erfindung gemacht worden. Man will nicht mehr Schiffe aus Holz, sondern aus Eisen bauen. John ist für diese Idee, die ihm neue Zeiten eröffnet, Feuer und Flamme, und beteiligt sich sofort an dieser großen Unternehmung. Sam ist darüber ganz außer sich. Er sieht in dem Plan, eiserne Schiffe bauen zu wollen, eine große Unsinnigkeit, die niemals sich verwirklichen lasse. Es kommt zum Streit zwischen ihnen. John tritt aus der Firma aus. Sam versagt seine Einwilligung zu der Heirat seiner Schwester mit seinem ehemaligen Freund, und Gertrud ihrerseits, die zum Bruder hält, gibt ihrem bornierten Bräutigam den Ring zurück! – 1885. John Rhead ist in den 25 Jahren durch den Bau eiserner Schiffe zu vielen Millionen gekommen, so daß er Stiftungen von 10.000 Pfund machen kann. Die Rosie Sibley hat er damals nach dem Streit doch geheiratet, nachdem Sam schnell seine verrannte Stellung hatte aufgeben müssen. Eine Tochter, Emily, die nun 18 Jahre zählt, hat ihm die Ehe geschenkt. Diese liebt nun Arthur Preece, den ihr Vater entdeckt hat, und der sich als bedeutendes Erfindergenie entpuppt. Aber John Rhead, der einst so Vorurteilslose, ist gegen eine Verbindung seiner Tochter mit ihm, da er aus einfacher Familie stammt und moderne sozialistische Anschauungen hegt, die er nicht teilen kann. Er, dem jetzt sogar der Baronet bevorsteht, hat andere Pläne. Emily soll den zwar reichen, aber alten Lord Monkhurst heiraten. Einwendungen nutzen nichts, das junge Mädchen muß sich dem harten Willen fügen und entsagt ihrer Liebe. – 1912. Sir John Rhead und seine Frau feiern als ganz alte Leutchen ihre goldene Hochzeit. Alle Familienmitglieder, soweit sie noch am Leben sind, haben sich zu diesem Fest eingefunden: so die alte Schwester Gertrud, die einstmalige Verlobte Sams, die Frau des verstorbenen Sibley mit ihrem Sohn Richard, die Tochter Emily, jetzt 45jährig, die den verstorbenen Lord Monkhurst geheiratet hat, mit ihren erwachsenen Kindern Lord Monkhurst und Mabel. Im Laufe des Abends verlobt sich Mabel mit Richard Sibley, womit aber weder der alte Sir John, noch ihre Mama, die Lady Monkhurst, einverstanden sind. Sie haben beide höhere Pläne vor, Mabel soll in die Aristokratie hineinheiraten. Erst als der schon bejahrte Arthur Preece, der einst verschmähte Liebhaber, der im Laufe der Zeiten reich geworden und sich zum Führer der Arbeiterpartei aufgeschwungen hat, kommt und die widerspenstige Mama Emily an ihre eigene Jugendliebe erinnert, gibt sie nach. Auch der alte Sir John wird dann für die Heirat gewonnen. Während alle bald froh weggehen, bleiben die beiden alten Jubilare zusammen am Kaminfeuer zurück und tauschen ihre Erinnerungen miteinander aus. – Mit diesem Stoff haben die beiden Autoren ein ganz annehmbares Lustspiel zusammengeschrieben. Mit seinen herzlichen Belanglosigkeiten, seinen gut spießbürgerlichen Sentimentalitäten ist es sehr häufig nur dramatisierte ‚Gartenlaube’, so ist alles darin, was ein primitives Gemüt fesseln kann: ein bornierter Mensch, der nicht glaubt, daß man eiserne Schiffe bauen kann, ein Unternehmungslustiger, der an seiner Jugendliebe festhält, Millionen verdient und Baronet wird, viel Familientratsch, der sich über Kinderwagen mit oder ohne Gummiräder, über Dienstmädchen etc. pp. nicht genugtun kann, ein harter, ehrgeiziger Vater, der seine Tochter nicht einem einfachen, geliebten Mann gibt, sondern einem alten Lord; eine goldene Hochzeit wird sogar gefeiert, unglückliche Liebe wird wieder einmal geschildert, aber endlich mit gutem Ausgang bedacht. Die drei Akte, jedesmal verschiedene Zeiten darstellend, sehen sich lustig an wie Bilderbücher, in denen man Seltsames finden kann, so z. B. die Kleidertrachten und Moden, die trotz ihrer Historie immer mit großem, naivem Gelächter empfangen wurden. Nichtsdestoweniger fehlt dem Lustspiel nicht eine gewisse Feinheit, die es wie ein altes, ehrwürdiges Gemälde anschauen läßt, wenn es auch von der Eindrucksfähigkeit des Thomas Mann’schen Romans Die Buddenbrooks sehr, sehr weit entfernt ist. Aber eine Art pietätvollen Gefühls vermag es zu wecken, dem man sich besonders am Schluß, wenn die alten Leute am Kaminfeuer sitzen und in ihren Erinnerungen schwelgen, während im Nebenzimmer die alte Gertrud eine vergilbte Liebesarie singt, nicht entziehen kann. – Der Erfolg des Lustspiels ist aber zunächst der glänzenden Darstellung zu danken. Leopold Jeßner hatte ganz entzückende Interieurs geschaffen, die sich streng an den Geschmack der Zeit hielten. Herr Bozenhard spielte den John Rhead und gab dem Jungen, dem Manne, dem Greis eine treffliche Charakterisierung. Besonders die Darstellung des 76jährigen war ein Kabinettstück ersten Ranges. Frl. Bré war als Rosie seine ebenbürtige Partnerin. Mit der undankbaren Rolle der Gertrud fand sich Frau Franck-Witt mit gutem Gelingen ab. In ausgezeichneten Figuren, die weniger Persönliches zu betonen, als sich nur dem Ganzen einzufügen hatten, brillierten die Herren Farecht als Samuel, Roberts als Lord Monkhurst, Keune als Arthur Preece, die Damen Bach-Clemens als Emily, Frl. Lobe als Frau Sibley, Vallière als Mabel. Die Herren Grill, Göbel und Hallenstein waren in kleineren Rollen beschäftigt. – Die Aufnahme des Stückes von seiten des Publikums war außerordentlich warm und herzlich. Sie galt aber mehr den Spielenden, als den Autoren. K. Aug. Kr.“ ●●● Hamburger Fremdenblatt, 2. Oktober 1913, Nr. 231, Sechste Beilage, S. 25-26. – „Große Pause nach dem zweiten Akt. Im Foyer beobachte ich zwei ältere Damen. Die eine, augenscheinlich sehr angeregt von dem bisher Gesehenen, aber unselbständig in ihrem Urteil, wirft die zaghafte Frage hin: ‚Nun, wie gefällt’s Ihnen?’ ‚Entzöckend – einfach ent … zök … kend!’ entgegnet die Angeredete mit Nachdruck, und ihre grauen Löckchen fliegen bei ihrem bekräftigenden Kopfnicken vor Enthusiasmus. – Entzückend mit ö. Aber die beiden Damen mit ihren freundlich-freudigen Gesichtern haben in gewisser Weise recht, und ihr Spruch wird vom ganzen Hause bestätigt. Es ist in der Tat ein freundlich-unterhaltsames Stück, untief im Thema, aber harmlos überraschend in der Ausführung, sanft familienhaft, aber nicht ohne wohltemperierte aufrührerische Anwandlungen, anspruchslos im Künstlerischen, und doch behäbig-raffiniert auf melodramatische Effekte zugespitzt. Ausgesprochen Made in England. Das Lustspiel ist mit der Rücksicht auf ein ganz naives und ganz unkritisches Publikum geschrieben. Aber siehe da, dies Publikum gibt es nicht nur im Vetternlande Albion! Die einzelnen Akte sind freundliche Guckkastenbilder mit bedachtsamen Ausblicken in die Zukunft; die Siebenmeilenstiefel, mit denen die beiden Autoren die Jahrzehnte durchschreiten, die diese Akte trennen, sind im Grunde bequeme Hausschuhe. Jeder dieser Akte mutet wie ein Romankapitel an; das erste könnte von Dickens, das zweite von Anthony Trollope, das dritte etwa von dem etwas schärfer gewürzten Leonard Herrick [? Robert Herrick (1868-1938)] geschrieben sein. Bernard Shaw jedoch bleibt gänzlich außer Betracht. Er ist die große Ausnahme, die die englische Regel bestätigt, und er grinst diabolisch-melancholisch zu der gezuckerten Leistung seiner beiden publikumsnachgiebigen Kollegen. – Meilensteine: der Titel will symbolisch verstanden werden. Drei Akte – drei Generationen; drei Gesinnungen, drei Männer- und drei Frauencharaktere; Konservatismus, Imperialismus und Sozialismus für den Hausgebrauch. Dreifach wird die sich ewig wiederholende Auseinandersetzung der Jugend mit dem Alter gezeigt. Und zugleich zieht – wie nett! – in dreifacher Ausprägung das Theater der Mode in Tracht und Zimmerausstattung vorüber. Das Liebespaar des ersten ist das Ehepaar des zweiten und das Großelternpaar des dritten Aktes. In zwei Stunden durchs ganze Leben! Wahrlich, Regisseur und Darsteller, denen die Autoren ganz besonders lockende Aufgaben gestellt hatten, durften nicht minder als das Auditorium zufrieden sein. – Erster Meilenstein: 1860. Biedermeierstil, in den Möbeln und Kleidern nicht minder, als in der Barttracht und im Geistig-Seelischen. Aber schon meldet sich die Zukunft: auf der Themse schwimmt das erste, ganz aus Eisen erbaute Marinedampfschiff. John Rhead, Teilhaber einer altangesehenen Firma, will diese Schiffsform auch in der Handelsschiffahrt zur Geltung bringen. Die alte Firma läßt den kühnen Neuerer laufen, aber seinem Plan gehört die Zukunft, und er gewinnt sich auch die ihm von den grollenden Teilhabern zunächst vorenthaltene Braut, die ganz der Typ des gehorsamen Weibes aus der alten Zeit ist, während seine Schwester ihren zaghaften Verlobten, den Schwager ihres Bruders, verliert, da sie wider den Stachel löckt. – 1885 machen wir am zweiten Meilenstein halt. John Rhead wird zum Baronet ernannt. Aber er ist in seiner Selbstzufriedenheit erstarrt und nach außen hin zum Snob, im Hause aber zum unduldsamsten Tyrannen geworden. Seine Tochter Emily liebt Arthur Preece, einen in den Werken Rheads beschäftigten erfahrungsreichen Ingenieur, aber Sir John will sie nur einem veritablen Lord geben, der an Alter zwar mindestens ihr Onkel sein könnte, aber ihr und ihrer Familie den Anschluß an die ‚Gesellschaft’ gewährleistet. Ibsens Nora war zwar damals schon geschrieben, aber die kleine Emily hatte das Stück wohl nicht gelesen. Sie opfert ihr Herz und ihre Liebe – wie rührend! – und nimmt den Lord Monkhurst. Arthur Preece verzweifelt und wird Arbeiterführer, um diese hinderlichen Lords aus der Welt zu schaffen. Die aber sind zäh! – Meilenstein Numero III: 1912. Lord Monkhurst ist schon gestorben, Lady Monkhurst mit einem Sohn (dünkelhafter Laffe) und einer Tochter (graziöse Menschen- und Frauenrechtlerin) hinterlassend. Aber Sir John Rhead und seine Gattin leben noch: sie feiern gerade ihre goldene Hochzeit. Das Fest wird freilich arg gestört. Denn seine Enkelin Mabel hat sich mit dem einfachen Ingenieur Richard Sibley verlobt, den sie – anders als ihre Mutter – für keinen Lord der Welt hergeben möchte. Im Gegenteil, sie ginge mit ihm auch nach Kanada, wohin er zur Ausführung großer zivilisatorischer Pläne gesandt werden soll. Der Alte poltert, die Mutter weint; aber Mabels Absichten werden sehr energisch von ihrer sitzengebliebenen Großtante (‚schön ist die Ju-ugend, sie kehrt nicht mehr’) und von der auf einmal aus ihrer Nachgiebigkeit erwachenden Großmutter unterstützt. Das inzwischen entdeckte Selbstbestimmungsrecht der Frau wird zugunsten der Verliebtheit Mabels in die Wagschale geworfen. Sie – die Wage – schwankt eine Weile sehr heftig, aber schließlich bekommt das entzückende Mädel ihren Willen und ihren Bräutigam. Ja, noch mehr, auch Arthur Preece taucht wieder auf, sehr pessimistisch, denn die alte Liebe sitzt ihm noch immer im Gemüt und seine sozialistischen Bestrebungen haben ihn für den erzwungenen Verzicht nicht entschädigt. Was wetten wir? Schließlich bekommt auch Lady Monkhurst noch ihren einstigen Geliebten und mit der Aussicht auf eine Doppelhochzeit können wir getröstet ins Jahr 1913 schreiten und die anderen Meilensteine der Zukunft überlassen. Alte Liebe rostet nicht und die Jugend hat immer Recht. Merkt’s euch, ihr Alten, vertieft euch in eure Erinnerungen und setzt euch wie der alte Sir John mit den Worten an den Kamin: ‚Man muß lernen, solange man lebt!’ Und zwar, weil nur der Wechsel in dieser wandelbaren Welt Bestand hat. – Wer könnte dieser schlagsahnenhaften Mischung von naiver Sentimentalität und vorsichtigem Sarkasmus widerstehen, dieser Legierung von Romanhaftigkeit und allerhand Schlagwortspielereien? Freilich flößen diese Figuren kein rechtes Vertrauen ein; man glaubt nicht an sie. Alles Tun und Geschehen ist ein Spiel, das einem Sinn und Nerven kitzelt und bald auf sanfte Heiterkeit, bald auf Rührung spekuliert, aber damit hat es sein Bewenden. Ich würde mir ein billiges Wortspiel mit dem Namen des einen der Autoren nicht erlauben, wenn mir nicht gestern jener von Hermann Bahr bewahrte Wiener Ausspruch fortwährend in den Sinn gekommen wäre: ‚Schokolade ist gut. Knoblauch ist auch gut. Wie gut muß nun erst Schokolade mit Knoblauch sein!’ Nun wohl, der Brillat-Savarin dieses Ausspruches scheint Bennett-Knoblauchs Meilensteine vorgeahnt zu haben. Sie sind Schokolade mit Knoblauch. Aber sie sind trotzalledem unterhaltsam, haben a well-regulated mind und bieten auch äußerlich soviel freundliche Augenweide, daß die liebenswürdige Aufnahme hinlänglich erklärlich scheint. – Die Aufführung leistete dieser Aufnahme den denkbar größten Vorschub. Sie war vortrefflich. Leopold Jeßner glänzte als Meister der Inszenierung. Seine Interieurs aus den Jahren 1860, 1885 und 1912 waren nicht nur sehr reizvoll, sondern auch von gelungener Charakteristik. Das gleiche gilt von den Kostümen der Darsteller. Ließ einmal das Stück im Stich, so konnte man sich an diesen amüsanten und interessanten Zeitstudien ergötzen. Große Anforderungen waren auch an die Wandlungsfähigkeiten der Darsteller gestellt. Sie entsprachen ihnen mit überlegener Sicherheit: […] I.K.“ ●●● NZZ, 19.10.13, Zweites Blatt, Nr. 290 (Nr. 1464): „Meilensteine, ein dreiaktiges Lustspiel der Engländer Arnold Bennett und Edward Knoblauch, deutsch von Max Meyerfeld, erwies sich bei der ersten deutschen Aufführung am Hamburger Thalia-Theater als ein amüsantes Konversationsstück, dem Publikum und Kritik eine recht beifällige Aufnahme bereiteten.“ ●●● Vgl. auch die Korrespondenten-Berichte in der Vossischen Zeitung vom 04.10.13 (Nr. 504, Erste Beilage) und im Berliner Tageblatt vom 02.10.13 (Nr. 501, Abendausgabe).

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1913

John Galsworthy: Justiz. Drama in vier Akten. Deutsch von Max Meyerfeld. Berlin: Bruno Cassirer 1913. V, 123 S.

Originaltitel: Justice. A Tragedy in Four Acts. – Uraufführung: 21.02.1910, Duke of Yorke’s Theatre, London. – Deutsche Erstaufführung: Volksbühne Wien, 08.10.1913. – Weitere Aufführungen: Kammerspiele Frankfurt, 01.11.21 und Deutsches Künstler-Theater Berlin, 07.10.27 (mit Ernst Deutsch als Falder).

Rezensionen: Neue Freie Presse (Wien) vom 09.10.13 (Morgenblatt), S. 10: „Es ist ein durchaus interessantes Stück, dieses vieraktige Drama Justiz von John Galsworthy, das […] an der Volksbühne einen starken Erfolg errang. Die Gerechtigkeit wird als eine furchtbare Maschine gezeigt, von Menschen erfunden, in unsere wohlgeordnete Gesittung gestellt und über die Menschen hinauswachsend, gegen sie blind, fühllos wütend, dem Sichelwagen des Artaxerxes vergleichbar, der mitten im dichtesten Gewühl seine Opfer niedermäht. […] Viele vor Galsworthy haben das Stück der unbarmherzig waltenden Gerechtigkeit geschrieben; neu ist nur, wie er das Thema ganz modern auffaßt. Wir erkennen die Justiz als ein ungeheures Triebwerk, die Räder surren und sausen, die Mechanik knackt. Die Volksbühne hat dieses theaterwirksame Drama vortrefflich herausgebracht. […] Nach jedem Akt rief man den anwesenden Autor, der mit seinem freundlichen, korrekten, britischen Lächeln dankte. Er schien mit der Justiz des Wiener Publikums durchaus einverstanden.“ – Bernhard Diebold in der FZ, 02.11.21, Nr. 817: „In John Galsworthys Drama Justiz handelt es sich nicht um Kunst und Poesie, sondern um eine gesellschaftskritische Demonstration gegen die Moral der Paragraphen. Eine lächerlich bornierte Richtergesellschaft verhängt aus einem gnadenlosen Recht heraus drei Jahre Zuchthaus über einen zwanzigjährigen Menschen, der für seine von grauenhafter Not bedrängte Geliebte gestohlen hat. Eine Passion in fünf Bildern hebt an; und von den Leiden eines Sträflings bleibt einem wirklich nichts erspart. Eine demagogische Volksrede in dramatischer Form. Demagogisch: weil sie den krassesten Spezialfall als den typischen ausgibt. Hier ist alles herzlich gut gemeinte Tendenz, mit sensationeller Reißer-Technik in Effekte gehetzt. Die Träne quillt im Publikum, und Galsworthy gebührt Dank dafür, daß er den allenfalls im Parkett sitzenden Geschworenen den Weg zur nächsten Gerichtssitzung mit guten Vorsätzen gepflastert hat. Nur den Nobelpreis für Literatur gebe man ihm nicht, wie man es in der schwedischen Akademie zu Stockholm beinahe vorhat. Mit Literatur hat diese traurige Geschichte nichts zu tun. Die von Hanns Hübner verständnisvoll geleitete Aufführung wirkte spannend und bedrückend – wie es Galsworthy ja wohl will. Und der Beifall war gut.“ – Monty Jacobs in der VZ, 08.10.27, Nr. 477: „Seitdem Klatschen und Hervorrufe Ovationen sind, die nichts mehr in Berlin bedeuten, muß man schon während des Spiels die Ohren spitzen. Wenn ein Schauspiel packt, so bleibt dem gefährlichsten Huster das Röcheln in der Kehle stecken. Gestern wurde heftig geröchelt. […] Hoppla, wir leben nun einmal im Theater und wichtig ist nur die Kraft der Stricke, mit denen man uns einfangen will. Weil sie in der Justiz dünn sind, so versagen alle sympathischen Meinungen des Reformers Galsworthy an der Schwäche des Bühnendichters Galsworthy.“ – Herbert Jhering im Berliner Börsen-Courier, 08.10.27, Nr. 472: „Ein mahnendes Schauspiel ohne Überzeugungskraft. Edel gemeint, notwendig in der Tendenz. Aber schwach und dürr in der Durchführung. Galsworthys Drama wirkt quälend, ohne aufzurütteln. Es fehlt der Zuschuß Temperament, der die Wirkung ins Gehirn, ins Gefühl der Zuschauer hinübergeleitet hätte. […] Ein sandiges Stück, das die Schauspieler im Trockenen läßt. So entstand eine unlustige Aufführung.“

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1914

William Shakespeare: Othello, the moor of Venice. Othello, der Mohr von Venedig. Deutsch von Wolf Heinrich Graf von Baudissin. Herausgeber: Dr. Max Meyerfeld. Berlin und Leipzig: Tempel-Verlag [1914]. 155 Doppelseiten, S. 157-159. (Tempel-Klassiker. Shakespeares Werke, englisch und deutsch).

Rezension: Max Förster im Jahrbuch der deutschen Shakespeare-Gesellschaft, Bd. 51 (1915), 253: „Endlich sind in der zweisprachigen Ausgabe des Tempel-Verlages, deren geschmackvolle Ausstattung wir schon vor zwei Jahren loben konnten […], wiederum zwei neue Stücke erschienen: Othello und Lear. Der deutsche Text bietet die Übersetzungen von Baudissin und Tieck in möglichst ursprünglicher Form. […] Die Schwierigkeit, welcher englische Text dem deutschen gegenüberzustellen sei, bleibt weiterhin ungelöst. Max Meyerfeld, der Herausgeber des Othello, ist der Frage überhaupt nicht näher getreten […].“

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1925

John Galsworthy: Der Erste und der Letzte. Drama in Drei Szenen. Autorisierte Übertragung von Max Meyerfeld. Schauspiel-Verlag Leipzig [1925]. 72 S.  

„Den Bühnen gegenüber Manuskript. Das Recht der Aufführung ist nur vom Schauspiel-Verlag Leipzig zu erwerben.“

Originaltitel: The First and the Last (1921), eine Dramatisierung der gleichnamigen Kurzgeschichte von 1918. – Uraufführung: 30.05.1921, Aldwych Theatre, London. – Deutsche Erstaufführung: Kammerspiele Lübeck, 22.02.1927.

Rezension: Lübecker General-Anzeiger, 24.02.27, Nr. 46, 2. Beilage, 10: „Es ist kein sehr wertvolles Werk, das uns diese Uraufführung kennen gelehrt hat; Galsworthy, dessen Stärke besonders im Roman liegt, hat viel Besseres geschrieben. Wohl aber ist es ein bühnenwirksames, in drei kurzen Szenen geschickt auf Spannung und Rührung gearbeitetes Theaterstück. Der Titel weist auf das Bibelwort: ‚Die Letzten werden die Ersten sein.’ Und auf eine – moralische – Rangumordnung solcher Art hat der Autor die Handlung zugespitzt. […] Dem Stück verhalf eine vortreffliche Darstellung zu starkem Erfolg.“

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Oscar Wilde: Epistola: In Carcere et Vinculis. Deutsch von Max Meyerfeld. Berlin: S. Fischer Verlag 1925. VIII, 183 S.

„Ungekürzte Urausgabe, mit Genehmigung von Oscar Wildes Erben“. 1. Aufl. limitiert auf 1000 Exemplare. – 2.-10. Aufl. 1925. – 11.-13. Aufl. 1929.

Einleitung [‚Geleitwort’]: „,Bist Du also mein Testamentsvollstrecker – schrieb Oscar Wilde aus Reading in einem Briefe vom 1. April 1897 an seinen Freund Robert Ross –, so mußt Du im Besitze des einzigen Dokuments sein, das über mein außergewöhnliches Verhalten Aufschluß gibt … Wenn Du den Brief gelesen hast, wirst Du die psychologische Erklärung für ein Betragen finden, das dem Außenstehenden eine Verbindung von absolutem Blödsinn und vulgärer Renommisterei scheint. Eines Tages muß die Wahrheit bekannt werden – es braucht ja nicht bei meinen Lebzeiten zu sein … Aber ich habe keine Lust, für alle Zeit an dem lächerlichen Pranger zu stehn, an den man mich gestellt hat; aus dem einfachen Grunde, weil ich von meinem Vater und meiner Mutter einen in der Literatur und der Kunst hochgeehrten Namen geerbt habe, und ich kann nicht in alle Ewigkeit dulden, daß dieser Name geschändet sein soll. Ich verteidige meine Handlungsweise nicht. Ich erkläre sie. In meinem Briefe finden sich auch etliche Stellen, die von meiner geistigen Entwicklung im Zuchthaus handeln und der unausbleiblichen Wandlung meines Charakters und meiner intellektuellen Stellung zum Leben, die sich vollzogen hat … – Wird die Abschrift in Hornton-Street hergestellt, so läßt man die Schreibdame vielleicht durch einen Schieber in der Tür füttern, wie die Kardinäle, wenn sie zur Papstwahl schreiten, bis sie auf den Balkon hinaustritt und der Welt verkünden kann: ‚Habet Mundus Epistolam’; denn tatsächlich ist es eine Enzyklika, und wie die Bullen des Heiligen Vaters nach den einleitenden Worten heißen, mag man von ihr als der ‚Epistola: In Carcere et Vinculis’ sprechen … – Nahezu zwei Jahre habe ich die immer schwerer werdende Bürde der Verbitterung in mir getragen; viel davon habe ich jetzt abgeschüttelt.’ – Zu Oscar Wildes Lebzeiten ist, gemäß der Weisung, nichts von dieser Epistel bekannt geworden. Bruchstücke daraus habe ich als erster in der Neuen Rundschau (Januar- und Februar-Heft 1905) mitgeteilt; die deutsche Buchausgabe folgte kurz darauf. Sie zog die Veröffentlichung in der Ursprache nach sich. Hier waren die Stellen, die von der geistigen Entwicklung des Briefschreibers im Zuchthaus handelten, mit großem Geschick aneinandergereiht, alles, was den Briefempfänger betraf, mit größerer Kühnheit ausgeschaltet. Für seine – milde gesagt – Umredigierung erfand Robert Ross den Titel De Profundis. ‚Mag Ross dem Ideal eines philologischen Herausgebers nicht entsprechen, die Beteiligten werden ihn als das Ideal eines taktvollen Menschen rühmen.’ [MM in der Einleitung zu seiner ‚Neuen deutschen Ausgabe’ von 1909.] – In meiner etwas erweiterten Ausgabe des Jahres 1909 bin ich dann zu dem vom Verfasser vorgeschlagenen Titel zurückgekehrt, wenn er ursprünglich auch halb im Scherz gemeint war. – ‚Erst jetzt rückt das Werk in die rechte Beleuchtung, wo es als Brief kenntlich wird. De Profundis oder das, was wir De Profundis zu nennen pflegen, ist … ein Brief Oscar Wildes aus dem Zuchthaus in Reading an seinen Freund Lord Alfred Douglas; ein sehr langer Brief allerdings von achtzig eng beschriebenen Seiten, aber doch seinem ganzen Charakter nach ein Brief. Und daß sein Verfasser ihn als solchen empfunden, zeigt der von ihm vorgeschlagene Titel Epistola: In Carcere et Vinculis. Da ihn Wilde selbst gewählt hat, entschloß ich mich, ihn beizubehalten, obwohl sich De Profundis schon eingebürgert hat.’ [Einleitung zur Ausgabe von 1909] – Robert Ross hat im Jahre 1909 dem Britischen Museum in London die Urschrift des Werkes mit der ausdrücklichen Bestimmung übergeben, daß es nicht vor dem Jahre 1960 in England veröffentlicht werden solle. Die Rücksicht auf den noch lebenden Adressaten des Schreibens bewog ihn dazu. Als dieser im Früjahr 1913 einen Beleidigungsprozeß gegen den Schriftsteller Arthur Ransome führte, wurde das gesamte Werk, um die Darstellung des Angeklagten zu erhärten, vor Gericht verlesen; die englischen Zeitungen der ganzen Welt, auch deutsche, brachten spaltenlange Auszüge, so daß es für keinen Menschen mehr ein Geheimnis war, was die von Ross unterdrückten Stellen enthielten. – Diese völlig ungekürzte, zum ersten Mal erscheinende Buchausgabe der Epistola erfolgt mit besonderer Genehmigung von Oscar Wildes Erben. – Berlin, 4. August 1924. – Max Meyerfeld.“

Rezensionen: Saturday Review (London), 10.01.1925, 25-26: „Oscar Wilde’s finest contribution to the drama was composed in the French language, a medium which the ‘nineties affected to think a more suitable vehicle for certain of his moods than his own mother tongue. Circumstances have now decreed that the complete text of his most famous narrative should be given to the world in German form while still (as will probably be the case for many years to come) unprocurable in English. Dr Max Meyerfeld, to whom the late Robert Ross dedicated the 1908 edition of De Profundis, remarking in the prefatory letter that but for him the work would in all likelihood never have been published, has, with the consent of Wilde’s heirs, translated the complete text of Wilde’s letter to a friend, and given it to the German public under the title Epistola: in Carcere et Vinculis. One does not think of German as an apt medium for Wilde’s ornate sprightliness. So far, however, as a foreigner can judge, the version of Dr Meyerfeld is a brilliant piece of work, a little too smooth and slow in rhythm, if one compares it with the changefully musical original, so that Wilde’s English strikes almost harshly when you turn back to it after some pages of the German rendering; but what translation can be effected without some sacrifice to the genius of the language? – And yet, despite all the merits of the translator, and all those arts of superb printing and book-binding in which Germany so hopelessly outdistances us, this is a most disappointing book. We have here a text roughly three times as long as the De Profundis known to us, and in all those additional two-thirds scarcely a thought that will cleave to the memory. The curious can indeed find copious enlightenment upon details of Wilde’s life at the height of his fame and his powers, though virtually none of a scandalous nature. But when we read this lengthy letter through, we might easily forget that the suppression of two-thirds of it in the English edition was dictated by considerations of a social, and not of a literary nature. Not the least important of the services rendered by the chivalrous and faithful Robert Ross to his dead friend was the transformation of what must frankly be termed a tedious document, albeit enlivened by exquisite and immortal passages, into a narrative ‘brief, but all roses.’ – The present publication, if disappointing from the purely literary standpoint, is yet of great importance for the understanding of Wilde’s personality, and of the effect upon it of his prison circumstances. The Ross edition of De Profundis has the merits of an excellent anthology, with which, however, the more serious student will never be content. For him it will be well worth while to tackle the tedium of the entire document – which will not, as a matter of fact, be tedious to him, as it would be to the general reader. In the complete text he will find besides the long passages excised from the English version not a few elucidations of the text as we know it. He will learn, for instance, who was the anonymous friend who raised his hat in the prison corridor to the handcuffed Wilde, that ‘little, lovely, silent act of love that unsealed all the wells of pity, made the desert blossom like a rose, and brought me out of the bitterness of lonely exile into harmony with the wounded, broken, and great heart of the world’ – the same whose letters, charming in their wit, their clever, concentrated criticism had ‘the tact of love as well as the tact of literature.’ The late Robert Ross was he whose devotion, enshrined in such unforgettable words of gratitude, will go down to posterity as something almost legendary. – That regard for living persons which makes publication of the full text in this country undesirable, precludes an analysis of its contents in these columns. Suffice it to say that Wilde develops an elaborate and closely knit thesis, aiming at the transference on to another’s shoulders of the main responsibility for his downfall. Posterity will discuss how far the apology and the indictment are consonant with the main facts. Or perhaps, when the veil of semi-secrecy is withdrawn, posterity will decide that this is an old, unhappy, far-off thing, with no particular claim upon its attention. More interesting than the tale itself is the sketchy but convincing background that peeps through. Oh! that life centring round White’s Club and the Savoy, the Berkeley and the Café Royal; that life which opened its day with lunch from half-past one to half-past three, and closed it with a midnight supper at Willis’s, having contrived to wedge two solid meals in between; that life crammed to bursting with ortolans, turtle soup, and vintage champagnes! How in retrospect Wilde loved it and hated it! Prison diet invested the memories of heavy meals with a tender aureole; while a soul enriched by months of enforced meditation could not but shudder at the emptiness of its previous existence. In this depiction of ‘High Life’ in a social epoch that is almost unbelievably dead there is plenteous material for the historian of manners; in Wilde’s attitude towards it after two years of hard labour there is no less material for the psychologist. As these two erudite persons may be presumed to know German, they will be able to get to work at once on Dr Meyerfeld’s version. […]” – – Der Bühnenschriftsteller und Übersetzer Fred A. Angermayer (1889-1951) im LE, Bd. 27, Nr. 5 (Febr. 1925), 265-268: „Dieses ungewöhnlich wichtige, die angelsächsischen Länder aufwühlende Dokument erschien zuallererst in deutscher Sprache. Nicht etwa eine Übersetzung einer englischen Ausgabe liegt hier vor, sondern das übersetzte Original selbst. Während aber England und insbesondere Amerika tief erstaunt sind, daß diese Erstausgabe in Deutschland herauskam, scheint man sich bei uns, zumindest bis zum heutigen Tag, keineswegs darum gekümmert zu haben. Man ging über eine Kulturtat, denn um nichts weniger handelt es sich hier, glatt zur Tagesordnung über. Oscar Wilde sagt in der Epistola, als er von Douglas’ Salome-Übersetzung spricht, die nebenbei indiskutabel schlecht war, daß keine Übersetzung, es sei denn, daß sie von einem Dichter herrühre, Farbe und Tonfall seines Werks in angemessener Weise wiedergeben könne. Diesen Ausspruch Wildes mit dem Anspruch, der darin liegt, reklamiere ich durchaus für die meisterhafte Verdeutschung dieses ungemein schwierig zu übersetzenden Werks durch Max Meyerfeld. Nicht nur die rein kulturelle Tatsache, die nicht minder wichtig ist, daß Meyerfeld, der einzige Deutsche, der Wertvolles über Wilde auszusagen wußte, auch dieses Dokument nach Deutschland brachte, gilt es hier festzustellen, sondern vor allem die ganz große Kunst, die dichterische Kraft, die überlegene Reife und Sicherheit, mit der er die Epistola deutsch umformte. Das Original, dessen Schönheiten in jedem Satz dieser Übersetzung aufleuchten, ist ohne allen Zweifel durch Meyerfeld in Farbe und Tonfall in unserer Sprache wiedergegeben. Man hat ja eine vage Vergleichsmöglichkeit, wenn man die englische Ausgabe von De Profundis heranzieht, die einen Bruchteil dieser Epistola enthält. Es bleibt erstaunlich, wie dieser Meisterübersetzer dem Dichter bis in die allerfeinsten Schwingungen seiner herrlichen Prosa nachgeht und mit klingender, manchmal berauschter Wortkunst, elastisch und schmiegsam, die Wildesche Syntax, ein Muster an Einfachheit und Schwierigkeit, deutsch umprägt. Bisher war jede Übersetzung Max Meyerfelds ein Genuß, eine Bereicherung deutscher Sprache, da dieser Dichter, denn er ist ein Dichter, eigene Töne aufrauschen läßt, um die englischen Worte haarscharf wiederzugeben; mit der Verdeutschung der Epistola aber überbietet er seine früheren Leistungen, denn in keinem Werke Oscar Wildes ist die Prosa von so kristallener Reinheit und fast sinnlicher Wärme und schwärmerischer Mystik wie in diesem Testament. Wir können stolz sein, daß dieses wichtigste Werk Oscar Wildes in Deutschland zuerst und in einer unanfechtbaren, mitreißenden Übersetzung herauskam, und ich weiß, daß uns viele Länder darum beneiden!“ – – Arthur Eloesser in der Weltbühne, Jg. 21, Nr. 28, 14.07.25, 55-58: „Max Meyerfeld hat vor über zwanzig Jahren unter dem Titel De Profundis Teile des Briefes herausgegeben, den Oscar Wilde im Zuchthaus zu Reading an seinen verhängnisvollen Freund Alfred Douglas schrieb, und den er am Tage seiner Entlassung dem treuen Sachwalter Robert Ross übergab. Diese deutsche Ausgabe ist später bis etwa auf ein Drittel des gesamten handschriftlichen Textes gebracht worden; sie ging in beiderlei Gestalt den englischen Veröffentlichungen voran, die nur sehr allmählich ans Licht treten durften in einem Lande, das den Namen Oscar Wilde ausgetilgt hatte, und das überdies mit besonders strengen Gesetzen zum Schutze lebender Personen den literarischen Testamentsvollstrecker Wildes zurückzuhalten wußte. Der ganze Brief an Douglas ist jetzt von Max Meyerfeld (bei S. Fischer) herausgegeben worden unter dem Titel Epistola, dem der gefangene Dichter nach Art eines geistlichen Breve noch die Anfangsworte: ‚In carcere et vinculis’ hinzufügte. Das Schriftstück, das wir bisher kannten, hielt im wesentlichen die Stellen zusammen, die sich auf Oscar Wildes Wandlung oder, wenn man so will, auf seine sittliche Läuterung beziehen. […] Was erfahren wir Neues aus der nun auf ihren ursprünglichen Umfang vervollständigten Epistola? Wir haben nun endlich die echte, mit ihrem Inhalt übereinstimmende Form des Briefes an den Freund oder Liebhaber, der seinen Herrn und Sklaven mit aristokratischer Unbefangenheit oder Unverschämtheit ins Verderben nötigte. Wir haben auch die bisher zurückgehaltene Abrechnung, die allerdings sehr genau geworden ist, und die uns an dem neuen Christen eines guten Gedächtnisses für die Zeit versichert, da er noch mit den Heiden tobte.“ – – Der Dramaturg und Schriftsteller Otto Zarek (1898-1958) in der NR, Bd. 36, Nr. 3 (März 1925), 334-336: „Nachdem gerade Frank Harris einen unendlich liebevoll gezeichneten Wilde gewissermaßen als Porträtbüste geformt hat, öffnet sich der so lange verschlossene Schrein, und das Pergament, das die tiefste Beichte des Dichters enthält, wird – noch bevor das puritanisch-prüde London sich die Gnade dieses Erlebens gestattet – uns entrollt: Epistola, der Brief Wildes an Lord Douglas, seine Klage und Anklage aus dem Zuchthaus.“ – – Der Jesuitenpater, Schriftsteller und Literaturhistoriker Alois Stockmann (geb. 1872) in Stimmen der Zeit, Bd. 109, Nr. 9 (Juni 1925), 230-232: „Zum ersten Mal vermag hier der ebenso sachverständige wie sprachgewandte Oscar-Wilde-Übersetzer Max Meyerfeld der Öffentlichkeit die ungekürzte Buchausgabe der Epistola vorzulegen, die der unglückliche irische Dichter im Zuchthaus (in carcere et vinculis) an seinen jungen launenhaften Freund Lord Alfred Douglas tatsächlich geschrieben hat. Schon vor bald zwanzig Jahren sind allerdings die für Wildes Geistesrichtung während seiner zweijährigen Gefängniszeit besonders bezeichnenden Stellen aus seinem nunmehr 180 Druckseiten umfassenden ‚Brief’ in geschickter Auswahl und Zusammenreihung unter dem Titel De Profundis erschienen. Die Redaktion war das Werk von Wildes Freund Robert Ross; die deutsche Übersetzung hatte schon damals Meyerfeld besorgt. Von Ross absichtlich weggelassen war in De Profundis alles, was den Briefempfänger Douglas und seine Familie betraf; mit andern Worten: der ganze grundlegende einleitende Teil blieb ausgeschieden. So konnte es geschehen, daß man De Profundis als eine Art religiös-artistisches Bekenntnisbuch auffaßte, das von der seelischen Läuterung des Dichters beredtes Zeugnis ablegte, eine Betrachtungsweise, zu der schon die stimmungsvolle Überschrift und dann auch der an feinziselierten ethischen, sogar asketischen Aussprüchen reiche Inhalt fast notwendig verleiten mußte. […] Aber als Führer und Vorbilder für die Jugend, als Künder einer höheren Lebenskunst, als Idealtypen und Vertreter modernster rhythmischer Haltung lehnen wir solche kranken Geister mit aller Entschiedenheit ab. Von der echten Romantik, mit der man den Dichter Oscar Wilde so gern in Verbindung bringt, besitzt er zwar den ganzen Schimmer und Glanz der bildhaften Sprache, den Reichtum an blendenden Einfällen und Gedankengängen, die Vorliebe für Ironie und geistsprühende Wortspiele, aber es fehlen trotz aller hohen Worte die festen Lebensgrundsätze, der sittliche Ernst und die religiöse Tiefe.“

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George Moore: Liebesleute in Orelay. Deutsch von Max Meyerfeld. Berlin: S. Fischer Verlag 1925. 146 S.

Reprint der gleichnamigen Erzählung aus der Sammlung Aus toten Tagen (s.o. 1907). (Gilcher D:Ge-15.)

Rezensionen: Fr.Sch. in der VZ vom 26.07.25, Nr. 350: „Der Autor dieses bei S. Fischer erschienenen Büchleins ist der dritte bedeutsame Schriftsteller aus Irland: George Moore ist skeptisch und spöttisch wie Shaw, und eingetaucht in Kultur und Schönheitszauber wie Wilde. Diese beiden Wesenheiten verbindet ein graziöser Geist zu einer rassigen Mischung. Mit anmutiger Leichtigkeit bildet er eine von witzigen Gedanken und geistreichen Aphorismen durchschossene Liebesgeschichte, deren Lektüre eine Feinschmeckerei ist. Man wird gegen diese Art der Erzählung einwenden können, der Autor mache seine Aperçus, um beständig den Leser an George Moore zu erinnern. Möglich. Aber dieser George Moore ist so liebenswürdig unverfroren und gescheit, so selbstherrlich frisch und ironisch, daß man versucht ist zu sagen: was für ein frecher Kerl! Voller Vergnügen macht man seine Seitensprünge mit, die bald in die Antike gehen, bald ins achtzehnte Jahrhundert und dann wieder mitten hinein in die Gegenwart. So balanciert er Gewichte des Verstandes und des Wissens auf den seidendünnen Fäden der raffiniert schillernden Erzählung, die alle Stufen der Empfindungen durchläuft: vom Sentiment zur heimlich berstenden Liebesangst, vom heißen Drang bis zur schüttelnden Verhaltenheit, von der Schwelgerei der Sehnsucht hinein in die volle Leidenschaft, in die Berauschung, in die freien Festtage der Liebe von Orelay. Das Buch schließt ruhevoll und weise – und zitiert einen Satz aus Balzacs Massimilla Doni, in dem gesagt wird, wie sehr die Feen und Traumgeister weinten am Wochenbett der Geliebten, die einen fremden und gleichgültigen Mann geheiratet hatte… Die Lektüre ist trotz der medialen Beschwörung verschollener Kulturreize leicht, prickelnd und flüssig: ein Destillat, zu dem die allerbesten Grundstoffe und reinsten Feuer gedient haben. Von wenigen Büchern gilt dies.“ – – NZZ, 14.08.25, Nr. 1266 (unsigniert): „Max Meyerfeld hat diese geistreiche Kostbarkeit von einer Erzählung ins Deutsche übertragen, ohne den Staub von den Schwingen dieses Schmetterlings zu wischen. Aber Schmetterling ist nicht das rechte Wort für die Erzählung Moores. Sie ist Champagner, und somit muß ich vor solch liebevoller Kunst der Übersetzung sagen, sie ist Champagner geblieben und nicht in Schaumwein übersetzt worden.“ – – Der Schriftsteller und Lektor Max Krell (1887-1962) in der Literarischen Welt, 2. Jg. (15.01.26), 5: „Eine der entzückendsten Liebesgeschichten aus England, klar, frisch, von zarten Humoren. Fast möchte man sagen: nur ein paar Randbemerkungen zu einer Begegnung, aber Randbemerkungen, die Wissen und Leben hinter sich haben. Ein Buch zum Immerwiederlesen.“

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1926

Pariser Geschichten von George Moore. Deutsch von Max Meyerfeld. Berlin: S. Fischer 1926. 161 S.

Reprint von acht der dreizehn Erzählungen von Aus toten Tagen (s.o. 1907). Ausgespart sind ‚Thema mit Variationen’, ‚Liebesleute in Orelay’, ‚Ein Gedenkblatt’, ‚Sonntag Abend in London’ und ‚Resurgam’. (Gilcher D:Ge-16.)

Inhalt: Der Blumengarten der Normandie. – Eine Kellnerin. – Marie Pellegrins Ende. – La Butte. – Verflossene Liebschaften. – Ninons Tafelrunde. – Im Luxembourg-Garten. – Bringen Sie die Lampe!

Rezension: Der Schweizer Kunsthistoriker Gotthard Jedlicka (1899-1965) in der NZZ vom 03.09.34, Nr. 1576: „Die Geschichte des Impressionismus wird immer wieder auf einige Quellen zurückgreifen müssen: auf die klassischen Bücher von Duret, auf die in ihrer Art ebenso wichtigen Anekdotenbücher von Vollard, auf Werke von Gustave Geffroy, der in unserer Zeit so sehr unterschätzt ist, auf die Kunstberichterstattung von Bürger-Thoré, auf das Werk von Joachim Gasquet über Cézanne, auf die Briefe der Impressionisten. Daneben hat sie noch andere Quellen zur Verfügung, die sie ja auch schon verwendet hat – Erinnerungsbücher von George Moore. Wir wollen hier nur auf eines dieser Bücher hinweisen, das – nach unserem Wissen – von der Kunstgeschichtsschreibung des Impressionismus bis heute übergangen worden ist, weil man es zur reinen Literatur gerechnet hat: auf die Pariser Geschichten von George Moore. Sie sind das charakteristische Beispiel einer künstlerischen Art der Berichterstattung über Kunst, die von der Kunst her auf das menschliche Leben in seiner Gesamtheit und Fülle übergreift. Diese Pariser Geschichten […] sind die novellistischen Seitenstücke zu den berühmten Erinnerungen an die Impressionisten des gleichen Verfassers, die vor Jahrzehnten bei Bruno Cassirer erschienen, unterdessen vergriffen und leider nie mehr neu aufgelegt worden sind.“

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1928

Albert und Hubert. Erzählung von George Moore. Deutsch von Max Meyerfeld. Berlin: S. Fischer 1928. 102 S.

Übersetzung der Erzählung ‚Albert Nobbs’ aus der Sammlung Celibate Lives (1927), zuerst erschienen in A Story-Teller’s Holiday (1918), Kap. 45-53.

Rezension: Walter Benjamin in der Literarischen Welt, Bd. 4, Nr. 20 (18.05.28), 5: „George Moore ist ein großer Erzähler – kein Epiker. Denn seine Welt ist gesetzlos. Ihn hat nicht die Vision einer Epoche und einer Stadt regiert wie Balzac, nicht ein Kanon von Leidenschaft vorgeschwebt wie Stendhal, nicht eine politische Idee bezwungen wie Zola. Er hat auf Balzac, auf Zola geschworen, alle erdenklichen Einflüsse, den von Bourget, von James erfahren, aber bestimmt wurde er doch immer von unberechenbaren Impulsen, und das Bezeichnendste bleiben daher seine autobiographischen Schriften, in denen, wie Chesterton sagt, ‚die Ruinen George Moores’ im Mondlicht sich ausbreiten. In der Tat ist das Atmosphärische die Stärke dieses irischen Dichters. Moore hat bekanntlich als Maler begonnen und in seinen Pariser Jahren im engsten Verkehr mit den Impressionisten gestanden. Wüßte man das nicht, so bliebe dennoch erkennbar, daß seine Novellistik das einzige literarische Gegenstück zur Kunst eines Sisley, einer Morisot ist. Diese Verwandtschaft, diese Isolierung bezeichnen ebenso genau sein Können wie die Grenzen seiner Bedeutung. Er hat sie mit der Wendigkeit und Zerstreutheit seines Schaffens sich selber gesetzt. Wenn die ihn aber um das Höchste brachten, so haben sie ihm dafür doch eines geschenkt: die wunderbare Frische seiner Schriften. – Diese Frische hat auch dies Buch von den beiden Frauen. Albert und Hubert nämlich sind Frauen in Männertracht. Sie begegnen sich auf die seltsamste Art, kreuzen sich einmal, haben nichts miteinander zu schaffen. Dies eine Mal aber ist genug, damit die eine glücklichere von beiden ins Leben ihrer Schicksalsschwester eine Losung wirft. Und wie die andere nun um dieses Schlüsselwort ihr ganzes Leben aufbaut, das ist der Hergang dieser Geschichte. Wie lautet diese Parole? ‚Mach es wie ich! Heirate ein Mädchen!’ Die Schönheit und die feenhafte Wahrheit in alledem ist aber dies: es geht hier nicht um Sexualia, die beiden Mädchen sind nicht Transvestiten, sind Proletarierinnen, die ein Zufall des Broterwerbs in diese Kleider gesteckt hat, die ihnen langsam auf den Leib gewachsen sind.“

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1929

Pepys. Komödie in 1 Akt von W. P. Drury und Richard Pryce. Deutsch von Max Meyerfeld. Musik von Albert Coates. 27 S. o.O., o.J. [Druck von Breitkopf & Härtel in Leipzig].

Komische Oper von Albert Henry Coates (1882-1953), einem englischen Dirigenten und Komponisten. Libretto von William Pryce Drury (1861-1949) und Richard Pryce (1864-1942). Uraufführung am Nationaltheater München, 21.12.1929.

Rezensionen: ‚Opera by Coates is Given in Munich’, New York Times, 23.12.1929, 26: „Although Albert Coates is not without honor in his own country as one of the notable British conductors, nevertheless his work as a composer has not had due recognition there. Although this aspect of his talent is known in the United States, and although next year his work Asshurbanipal [1915], based on the life of a King of Assyria, will be given in Berlin, his compositions are little known in London, and the honor of producing his first opera in one act, Samuel Pepys, fell to Munich last night, through the efforts of the enterprising impresario of the opera, Baron Franckenstein. – The pages of the lively diarist would be searched in vain for the libretto of the opera, as written by Major W. P. Drury and Richard Pryce, a German translation of which was done by Max Meyerfeld. Pepys, indeed, hinted of his friendship for Mistress Knipp, the delightful male impersonator of the Court Theatre, Drury Lane, but did not reveal, as the Coates opera does, what happened when Mistress Pepys went on a most opportune visit but returned too soon. – Just after the rise of the curtain Pepys returns from the Admiralty to find his wife about to set out on her journey, but she has time first to reveal her jealousy of Mistress Knipp, ‘that creature who calls herself an actress,’ whom the fickle Samuel has applauded three times. She has no sooner departed than Pepys’s eyes lose their tired look, which prevented him from accompanying his wife. The maids are ordered to prepare a sumptuous repast for three distinguished guests from the Admiralty, who soon arrive. – They are Mistress Knipp herself, accompanied by two elderly but dashing officers. The excellent food and rich wines or perhaps the songs and dances accompanied by Pepys on the spinet soon have such an effect that after Pepys has confided to Mistress Knipp his love for her, while his two rivals are sleeping, the respectable spinet is grossly abused as a merry-go-round on which Mistress Knipp is mounted. – Suddenly the announcement, ‘the mistress is returning,’ puts an end to hilarity. But the resourceful Mistress Knipp, while the remains of the feast are being removed, dons the suit which Pepys has just had made, copying the King’s own latest garment. When Mistress Pepys enters, she finds the Merry Monarch himself paying her husband the honor of a visit, with two royal aides in attendance. After duly paying her respects and crying, ‘God save the King,’ she retires for the night, her suspicions lulled. – Pepys breathes freely again, and makes the discreetest of entries in his diary. The clock strikes midnight, ‘and so to bed.’ [...]” ● ,Samuel Pepys: Mr Albert Coates’s New Opera’, The Times, 23.12.1929, 8: „At the Munich State Opera last night Samuel Pepys, a one-act opera by Mr Albert Coates, the English conductor, was given its first public performance. The opera had an enthusiastic reception and Mr Coates was called before the curtain eight times. The opera is to be performed again on December 27, and will then be put on the official repertoire of the State Theatre. The enterprise which Baron Franckenstein, the director of the State Opera, has shown in producing a work which is so essentially English has been amply justified. [...]” ● ‚Coates’ Samuel Pepys. Uraufführung im Nationaltheater’, Münchner Neueste Nachrichten, 23.12.1929, Nr. 349: „[…] Eine Notiz im Tagebuch dieses Flottenchefs und Musikenthusiasten bildet den Vorwand zu der am Samstag hier uraufgeführten Komödie, die von Drury und Pryce verfaßt, von Meyerfeld übersetzt und von Coates vertont ist. Das Textbuch ist ein auf eine Stunde ausgedehnter, durchaus mittelmäßiger und verbrauchter Witz. […] Zu dieser Belanglosigkeit hat der englische Kapellmeister Albert Coates eine ganz nette, harmlose, aber völlig wirkungslose Musik geschrieben, die meist im Scherzostil einherplätschert.“

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zuletzt aktualisiert: 18.06.19