Horst Schroeder

Nachrufe aus der Zeit des Dritten Reiches

1933 1934 1937 1938
       

1933

Kleine Chronik. NZZ, 7. Februar 1933, Abendausgabe, Nr. 236.
John Galsworthy, englischer Romancier und Dramatiker (gest. 31.01.33). – „Es soll ihm nicht vergessen sein. Als einer der ganz wenigen Europäer, deren Stimme zum Ohr der Welt sprach, hat John Galsworthy meines Wissens durch keine Äußerung während des Krieges eine Erschütterung seines seelischen Gleichgewichts verraten. [Dies ist nicht korrekt: Galsworthy war von Beginn des 1. Weltkriegs für das britische War Propaganda Bureau (Wellington House) tätig und gehörte zu den Unterzeichnern des antideutschen Manifests ‚Britain’s Destiny and Duty: Declaration by Authors’ (The Times, 18.09.14). Siehe zu dem letztgenannten Punkt auch Levin L. Schückings ‚Offenen Brief an John Galsworthy, Esq., London’ (LE, Bd. 17, Nr. 3 [01.11.14], 149-151).] Erschüttert, aufgewühlt, tief empört hat ihn die nach Einstellung der Feindseligkeiten fortdauernde Blockade, die das grausame große Kindersterben in Deutschland zeitigte. Damals gab er seinem Unmut in einem Gedicht Ausdruck, das, wie man ohne Übertreibung sagen darf, die Runde durch die Zeitungen aller Länder machte. Der Dichter schämte sich, ein Honorar dafür anzunehmen, und bestimmte, daß es den hungernden deutschen Kindern zugute komme. [Auch diese Aussage bedarf der Korrektur: Das Gedicht ‚Save the Children’ (Daily News, 29.12.19) – ‚Helft den Kindern’ (Stettiner Abendpost, 22.01.20) – war als Unterstützung des Kinderhilfswerks ganz allgemein gedacht. (Marrot).] Das war die erste Tat eines frühern ‚Feindes’: eine Wohltat. – Und noch eine kleine wahre Geschichte, die Galsworthys Herzensgüte beleuchtet, möge hier Platz finden. Ein weltberühmter Musiker, vor einigen Jahren gestorben (Zürich zählte ihn zu den Seinen), hinterließ seine Witwe in so kümmerlichen Verhältnissen, daß für sie gesammelt werden mußte. Der Präsident der Internationalen Musikgesellschaft wandte sich brieflich an zwei britische Schriftsteller von allgemeiner Geltung. – Der eine hatte den Verstorbenen oft gehört, rühmte sein Spiel, kannte ihn persönlich, rühmte sich, ihn Freund zu nennen. – Der andere kannte weder den Künstler noch den Menschen. – Der eine (nebenher ein Großverdiener und mit einer Millionärin verheiratet) hat bis zum heutigen Tag auf dieses Bittgesuch nichts von sich hören lassen. – Der andere schickte am nächsten Tag einen Scheck über zehn Pfund. – Der eine glaubt, einer Welt Ethik predigt zu müssen. – Der andere handelte vorbildlich. – Wer der eine ist, werdet ihr nie erfahren. [Gemeint ist höchstwahrscheinlich George Bernard Shaw.] – Der andere war John Galsworthy. – Ave, gentlemanly soul!“

Theaternotizen. NZZ, 6. April 1933, Morgenausgabe, Nr. 620.
Paul Biensfeldt, Berliner Schauspieler (gest. 02.04.33). – „Für seine letzte Rolle, den Antonio in Viel Lärm um Nichts, den er [Biensfeldt] an der Volksbühne gespielt [22.03.33], hatte er sich, zur Erhöhung der komischen Wirkung, ein heftiges Kopfschütteln beigelegt; vielleicht bezog sich dieses Kopfschütteln nicht nur auf die Rolle. Still wie sein Scheiden war Paul Bienfeldts Wirken. Dieser feine Künstler machte niemals viel von sich her. Er war immer prominent, ohne im Sperrdruck als ‚Prominenter’ angeführt zu werden. Sein Stern ging auf in der denkwürdigen Matinee des Residenztheaters [23.04.1893], die Max Halbes Jugend ans Licht brachte. Er kam zu Brahm ans Deutsche Theater, und seine Blüte fiel mit der Blüte des deutschen Theaters zusammen. Stand er auch nicht immer in der ersten Reihe, so war ihm doch noch die kleinste Episode recht, an ihr eine hohe Künstlerschaft zu erweisen. Für die Bühne war er wohl als Komiker abgestempelt, aber im Leben machte er den Eindruck eines schweren Misanthropen – was ja oft vereinigt sein soll.“

In memoriam Paul Ernsts. NZZ, 24. Mai 1933, Morgenausgabe, Nr. 935.
Novellist und Dramatiker (gest. 13.05.33). – „Was dem auf vielen Gebieten der Dichtkunst still für sich hinarbeitenden Paul Ernst, der zeitlebens ein Stiefkind des Erfolgs blieb, als Ehrung vom Berliner Staatstheater zugedacht war: die Aufführung seines Lustspiels Der heilige Crispin, sollte nun eine Trauerfeier werden, denn das Schicksal hat ihn dieser Freude nicht mehr teilhaftig werden lassen. Die Huldigung für den toten Dichter, der kurz vor seinem Ende noch Akademiemitglied geworden war, nahm recht vergnügte Form an: das Lustspiel errang freundlichen Heiterkeitserfolg. Und es hat ihn durchaus verdient, denn hinter dem Werke steht – das schienen die Hörer zu empfinden – eine liebenswerte Persönlichkeit. Daß es schon zwanzig Jahre alt ist, ohne der Zeit übermäßigen Tribut gezollt zu haben, spricht für seinen innern Gehalt. Ein großer Gestalter freilich war Paul Ernst wohl nicht, und der seltene Saft, den man als Theaterblut bezeichnet, war ihm von der Natur versagt. Aber er setzt mit dem Heiligen Crispin die romantische Komödie auf seine besondere Art fort. Um einen Vergleich aus der Musik zu wählen: das Phantasieren ist bei ihm stärker ausgebildet als das Komponieren; doch Phantasieren kann etwas sehr Schönes sein.“ – Vgl. die Rubrik ‚Theaterkritiken’.

Sir Anthony Hope †. NZZ, 13. Juli 1933, Abendausgabe, Nr. 1279.
Eigentlich A. H. Hawkins, englischer Romanschriftsteller (gest. 08.07.33), vor allem bekannt durch sein Abenteuerbuch The Prisoner of Zenda (1894). – „Bei Tauchnitz sind wohl mehr als zwei Dutzend seiner Romane erschienen, was darauf schließen läßt, daß er ein Liebling des den Kontinent bereisenden angelsächsischen Publikums war. Man kann nicht gerade sagen: wer einen von ihnen gelesen hat, hat sie alle gelesen – dazu sind sie zu ungleichartig; aber wer einen von ihnen gelesen hat, kann sich ungefähr ein Bild des Verfassers machen. Er war ein guter Unterhaltungsschriftsteller, nicht so skeptisch wie Somerset Maugham, nicht so skrupellos wie Michael Arlan. Deshalb soll man nicht in literarischem Hochmut die Nase rümpfen. Es gehört etwas dazu, sich mit anständigen Mitteln ein breites Lesepublikum zu schaffen; es gehört mehr dazu, dieses Publikum unabhängig von allen Wandlungen des Geschmacks festzuhalten. […] – Eine versunkene Welt ist in den Erzählungen Anthony Hopes aufgezeichnet, darum werden sie rasch in die ewige Nacht versinken; aber es ging in dieser Welt wenigstens honorig zu. Die wankende Gegenwart wird Anstrengungen machen müssen, bis sie wieder so weit ist wie die gefestigtere Vergangenheit.“

Kleine Chronik. NZZ, 11. September 1933, Morgenausgabe, Nr. 1629.
Ada Leverson (gest. 30.08.33). – „Die Sphinx. So hieß in London allgemein die vor wenigen Tagen gestorbene Romanschriftstellerin Mrs. Ada Leverson, seitdem Oscar Wilde diesen Beinamen für sie aufgebracht hatte. Als Mitarbeiterin des Punch, des besten englischen Witzblattes, hatte sie ihre parodistischen Beiträge mit ‚Minx’ gezeichnet, was so viel bedeutet wie ‚ausgelassenes Ding’: da lag das Reimwort Sphinx nahe. Wenn Wilde später die Frauen als Sphinxe ohne Geheimnis definierte, so zielte er sicher nicht auf seine Freundin Ada Leverson ab, denn sie hatte ein großes Geheimnis, und das war ihre große Menschlichkeit. Für die Torheiten ihrer Freunde hatte sie ein Lächeln; deren Schwächen behandelte sie mit gesundem Menschenverstand; an deren Leiden nahm sie tiefen Anteil. Wenn es darauf ankam, einem von der bürgerlichen Gesellschaft ausgestoßenen Dichter ein Obdach zu bieten, kümmerte sich Mrs. Leverson den Teufel um die üble Nachrede der Philister und Pharisäer. Sie hat ihre Bücher um Jahrzehnte überlebt, aber das Andenken an ihre bis ins hohe Alter bezaubernde Persönlichkeit wird sie lange überleben. Der achtzigjährige George Moore pflegte noch von Adas Schönheit zu schwärmen. Trotzdem hat sie es ihm nicht verziehen, daß er ihr, als sie das letztemal bei ihm in Ebury Street zu Gaste war, ein Glas Whisky mit Soda anbot. ‚Der alte Knabe hätte schon ein Glas Champagner spendieren können.’ Ja, Champagner entsprach mehr dem Wesen Ada Leversons. Nach Tische las sie ihm, auf seinen Wunsch, aus der deutschen Übersetzung [von MM] eines seiner Werke vor (es waren die Liebesleute von Orelay). Sie hörte kaum noch ein Wort, er verstand kein Wort der fremden Sprache; doch sie waren glücklich in der Erinnerung an verflossene Zeiten, denn sie liebten beide das Leben ….“

Ferdinand Bonn †. NZZ, 27. September 1933, Abendausgabe, Nr. 1741.
Schauspieler, Dramatiker und Theaterdirektor (gest. 24.09.33). – „Qualis artifex! Seine Schattenseiten vermochte jeder zu sehen. Er war ein Komödiant vom reinsten Blute, der sich selbst zum Star erhob, ehe der Begriff von Amerika aus seine Weltreise antrat. Rollen spielen genügte seinem Ehrgeiz nicht, er wollte die Rolle des Alleskönners spielen. Wenn keine Stücke für sein Protagonistentum da waren, schrieb er sich selbst welche auf den Leib. So kam er einmal als getarnter Schweizer Florian Endli mit dem Schmarren Andalosia, der zu einem denkwürdigen Theaterskandal in Berlin führte [s. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 01.11.05, Nr. 303]. Waren passende Rollen da, so wurden sie von ihm ausgeschmückt durch Geigensoli oder einen Einzug hoch zu Roß. Oft genug war er dicht daran, als Held eine komische Figur zu werden. Dann brach die ganze Herrlichkeit zusammen. Lorbeerbaum und Bettelstab. Als er wieder kam, schienen viele Schlacken von ihm abgefallen. Er fing an, in der zweiten Reihe zu glänzen. Plötzlich wurde man inne, wie viel er wirklich konnte. Er brauchte nur den Mund aufzutun, und sein sonores Organ, in Possarts Schule gebildet, konnte den jungen Menschen auf der Bühne zeigen, daß Sprechen gelernt sein will, Versesprechen erst recht. Bonn war ein außerordentlicher Sprecher voll Wohlklangs in der Stimme. Doch er konnte auch, in strenger Zucht, ein trefflicher Charakteristiker sein. Nun ist er, fast 72 alt, schon halb vergessen, in Walhall eingezogen.“

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1934

Otto Sommerstorff †. NZZ, 13. Februar 1934, Morgenausgabe, Nr. 256.
Österreichischer Schauspieler [eigentlich Otto Müller], viele Jahre am Deutschen Theater in Berlin tätig (gest. 03.02.34). – „Wenn man von dem vor wenigen Tagen in seiner steirischen Heimat hochbejahrt verstorbenen Schauspieler Otto Sommerstorff spricht, dessen Rücktritt von der Berliner Bühne schon mehr als ein Jahrzehnt zurückliegt, so kann man nicht umhin, das Wort ‚edel’ auf den Künstler sowohl wie den Menschen anzuwenden. Edel sein Profil mit der kräftigen Nase, das an idealisierte Schiller-Denkmale gemahnte und seinen Träger zur Darstellung Schillers (in den Karlsschülern) prädestinierte, wie er zeitlebens der ideale Schiller-Sprecher geblieben ist. Edel sein Gang und seine Haltung, so daß er fürstliche Gestalten wirklich verkörpern konnte und im Versdrama, von keinem Naturalismus herabgedrückt, imposant wirkte. Edel vor allem seine Sprache, die, in Baumeisters und Mitterwurzers Schule gebildet, den poetischen Schwung und den langen Atem hatte. Vielleicht war Sommerstorff kein großer Charakteristiker, sicher kein wandlungsfähiger Mime; doch in allen seinen Rollen nahm er durch die Geradheit und die Lauterkeit seines Wesens, der alles komödiantische Getue weltenfern lag, für sich ein. Ging von Kainz der zündende Funke aus, so war bei Sommerstorff die wärmende Flamme geborgen. Sprach Kainz vornehmlich den Intellekt an, so fand Sommerstorff den Weg zum Gemüt. Dieser Heldendarsteller mit hohem, nie hohlem Pathos war auch in der Welt der Anzengruberschen Dialektstücke zu Hause. Unvergeßlich sein Pfarrer zu Kirchfeld: so völlige Kongruenz von Darzustellendem und Dargestelltem, daß man sich in dieser Rolle keinen ebenbürtigen Nachfolger denken kann. Hier stand ihm in Teresina Geßner, seiner Gattin, die holdeste Anna Birkmaier zur Seite. Ein harmonischeres Paar hat auf der Bühne wie im Leben selten so viel stillen Glanz verbreitet.“

Wilhelm Diegelmann †. NZZ, 4. März 1934, Zweite Sonntagausgabe, Nr. 377.
Bühnen- und Filmschauspieler (gest. 01.03.34). – „In derselben Zeitungsnummer ist zu lesen, Wilhelm Diegelmann werde in der bevorstehenden Neuinszenierung von Hebbels Nibelungen am Deutschen Theater den Koch Rumolt spielen und – Wilhelm Diegelmann sei an den Folgen eines Schlaganfalles in seiner Berliner Wohnung gestorben. Von Frankfurt am Main, wo er in glanzvoller Zeit eine der Säulen des Schauspiels bildete, holte ihn Max Reinhardt ans Deutsche Theater, dem er bis zu seinem plötzlichen Ende treu geblieben ist. Papa Diegelmann, wie er seiner Jovialität wegen allgemein unter den Kollegen hieß, kam als ein Fertiger nach Berlin; eine Entwicklung hat er nicht mehr genommen – höchstens in die Breite, kaum in die Tiefe. Er brachte den Leibesumfang, die Gutmütigkeit, die Verschmitztheit für den Falstaff mit, und doch war er kein idealer Vertreter des feisten Ritters, weil hinter seiner Bonhomie nichts wetterleuchtete. Der Junker Tobias in Was ihr wollt war wohl seine beste Rolle. Doch in allem, was er darstellte, gingen eine strahlende Daseinsfreude, eine kräftige Lebensbejahung, ein heller Optimismus von ihm aus. Sein trinkseliger Humor, dessen Schutzheiliger allerdings weniger Dionysos als Gambrinus war, schuf ihm auf der Bühne wie im Film zahllose Freunde, die noch oft sein schmunzelndes Vollmondgesicht vermissen werden.“

Senta Söneland †. NZZ, 23. Juli 1934, Abendausgabe, Nr. 1327.
Volkstümliche Berliner Komikerin (Selbstmord 20.07.34). – „In einem Hotel der Berliner Innenstadt ist die volkstümliche Komikerin Senta Söneland freiwillig aus dem Leben gegangen. Sie hat jahrzehntelang viele Menschen lachen gemacht, und viele werden jetzt von der Tragik ihres weiblichen Bajazzo-Schicksal ergriffen sein. Der Tod ihres Mannes, der ungefähr vor Jahresfrist einer Operation erlag, war eine zu starke Belastungsprobe für ihre ohnehin zerrütteten Nerven. Sie versuchte, sich durch angestrengteste Tätigkeit aufrecht zu erhalten; aber wenn sie auf der Bühne ihre lazzi zum besten gegeben hatte, brach sie unter einem Weinkrampf in ihrer Garderobe zusammen. ‚Lache, Bajazzo!’ … Die Söneland, einer preußischen Offiziersfamilie entstammend, war ursprünglich Lehrerin, bevor sie den Sprung auf die Bretter wagte. Sie wollte höher hinaus, gierte nach den klassischen Liebhaberinnen, die sie in Meiningen spielen durfte, bis ein Zufall ihre burleske Begabung enthüllte. Fortan war sie eine Stütze jedes großstädtischen Varieté-Programms. Ihre Komik war laut und drastisch und reichte wohl nur selten in die stilleren Bezirke des Humors hinauf; aber die Übertreibung war das Lebenselement ihrer Kunst, und durch ihre Drastik gewann sie ohne weiteres Gewalt über die Hörer, die ihr zuwieherten, wenn sie berlinische Typen mit einer etwas verkrampften Energie darstellte. Mehr als eine Lokalberühmtheit ist sie wohl doch kaum gewesen.“

Rosa Bertens †. NZZ, 8. Oktober 1934, Abendausgabe, Nr. 1802.
Schauspielerin (gest. 05.10.34). – „Wenige Wochen nach dem Tode ihres Gatten, des Journalisten Paul Block, der das ehemalige Berliner Tageblatt lange in Paris vertrat, ist ihm Rosa Bertens gefolgt. Herzschwäche als Begleiterscheinung einer Lungenentzündung raffte die große Tragödin dahin. Im Gedächtnis der ältern Theatergeneration wird sie als beste Sprecherin der deutschen Bühne fortleben. Ihre Cassandra, ihre Klytämnestra, ihre Medea, ihre Jokaste stehen wie aus Erz gehämmert vor dem geistigen Auge. Wertvollste Pionierarbeit leistete sie für Ibsen und Strindberg, und wer sie je als ‚Femme X’ [in dem gleichnamigen Melodrama von Alexandre Bisson (deutscher Titel Die fremde Frau)] gesehen hat, wird empfunden haben, daß selbst ein solcher Reißer durch hohe Darstellungskunst geadelt werden kann [s. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 01.02.09, Nr. 32]. Auch im Lustspiel füllte die Bertens ihren Platz aus, weil sie eine ganz persönliche, reizvolle Art hatte, ‚Konversation zu machen’. Die durfte sie sogar den Parisern in deren Sprache vorsetzen. Ihr Name wird mit dem ruhmreichen Aufstieg der Theaterstadt Berlin stets verbunden bleiben.“

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1937

Marconi-Gedenkblatt. NZZ, 23. Juli 1937, Abendausgabe, Nr. 1332.
Der italienische Physiker und Ingenieur Guglielmo Marconi (gest. 20.07.37). – „Unter alten Briefschaften fand ich unlängst eine vom 26. Mai 1914 datierte Einladung des Londoner Theaterdirektors Arthur Bourchier zum Essen im Garrick-Club am nächsten Freitagabend um ½8  Uhr. (Seltsam – fast genau so heißt der amerikanische Spitzenfilm Dinner at 8 in seiner deutschen Fassung [Freitag abend um 8].) – Von dem inzwischen verstorbenen, seinen Bekannten unvergeßlichen Schauspieler Arthur Bourchier sagt man nicht zuviel, wenn man ihn einen der blutvollsten, saftigsten Künstler nennt, die je auf der englischen Bühne standen. Ein Kerl von Rabelais’schem Format, ein Falstaff an Vitalität, ein Jünger Epikurs in seiner Lebensführung. Damit scheint die Devise auf seinem Briefbogen Le bon temps viendra gut übereinzustimmen. Sein Ruhm als Darsteller gründete sich bei seinen Landsleuten vornehmlich darauf, daß er eine ausgesprochene Ähnlichkeit mit dem Blaubart Heinrich VIII. hatte […]. – Bourchier hatte ein paar Freunde eingeladen to meet Sir George Frampton, den gefeierten englischen Bildhauer. ‚Unter diesen werden sein: der berühmte Marconi, Anthony Hope, W.J. Locke (dessen Bücher Sie ja kennen), W.L. Courtney, Robert Vansittart (ein im Aufsteigen begriffener junger Dramatiker) und unser Freund Rumbold.’ Fürwahr, eine Milchstraße der Zelebritäten. Am meisten dürfte von ihnen heute Robert Vansittart interessieren, der inzwischen von der Poesie zur Politik hinübergewechselt hat und Unterstaatssekretär im Foreign Office geworden ist. Der erwähnte Hugo Rumbold, inzwischen auch schon gestorben, von Beruf Maler, war ein Bruder des langjährigen britischen Botschafters in Berlin, Sir Horace Rumbold. – Unter den im Garrick-Club Versammelten war Marconi natürlich der Stern der höchsten Höhe, und es galt als Auszeichnung, neben ihm zu sitzen. Seine Zurückhaltung, seine Wortkargheit und seine Schweigsamkeit wären auch dann aufgefallen, wenn sie an jenem Abend nicht einen besonderen Grund gehabt hätten. Am Morgen dieses Unglücksfreitags (29. Mai 1914) waren die ersten Nachrichten vom Untergang des Passagierdampfers Empress of Ireland in London eingetroffen, aber noch fehlten nähere Angaben über den Umfang der Katastrophe. Während des Essens erhielt Marconi fortgesetzt Privattelegramme, die ihm vom Kellner heimlich unter dem Tisch zugesteckt wurden. Offenbar hatte er diese Weisung gegeben, um die Stimmung nicht allzusehr leiden zu lassen. Als sich mit jedem Telegramm die Zahl der Schiffsopfer vermehrte (auch Laurence Irving, der Sohn des berühmtesten englischen Schauspielers, war darunter), konnte Marconi seine Selbstbeherrschung nicht länger zähmen, und er brach in den erschütternden Wehruf aus: ‚Now, what’s the good of wireless!’ Man darf wohl sagen: wenige Menschen haben einen Augenblick von solcher Tragik erlebt. Der geniale Schöpfer schien angesichts eines so furchtbaren Unglücks seine Schöpfung preisgeben zu wollen; einer, der helfen wollte, war gegen die Urkraft der Elemente machtlos. – Wir kamen dann auf die Anfänge seiner Erfindung zu sprechen. ‚Sehen Sie, alle großen Erfindungen der Menschheit, kaum daß sie geboren sind, werden von ihr für ihre kleinlichen, selbstsüchtigen, unmoralischen Zwecke mißbraucht. Ich erinnere mich noch: als wir so weit waren, daß wir unsere drahtlose Telegraphie der Öffentlichkeit vorführen konnten, hatten wir eine Anzahl Interessenten und Journalisten ins Carlton-Hotel eingeladen, und wir harrten nun des ersten Telegramms, das drahtlos seinen Weg über die Wellen des Ozeans nehmen sollte. Und was glauben Sie, was es für eine Botschaft brachte? Ein amerikanischer Millionär bestellte im Carlton ein Zimmer mit zwei Betten für sich und seine Sekretärin … Kann man sich einen ärgeren Mißbrauch denken, der mit einer großen Sache getrieben wurde?’ – Diese Sätze waren in so vollendetem, akzentfreiem Englisch gesprochen, daß die Vermutung nahe lag, Marconi müsse in frühen Jahren nach England gekommen sein. ‚Allerdings. Ich wohnte damals in einer Pension in Bloomsbury (so heißt der Stadtteil um das Britische Museum herum). Tagsüber ging ich meiner Beschäftigung nach, abends experimentierte ich noch zuhause. Die Wirtin hatte mir gestattet, nach dem Essen, wenn alles abgeräumt war, den großen Tisch im Speisezimmer für meine Apparate und Instrumente zu benutzen. Eines Abends, als ich bei der Arbeit war, sah mir eine ältere Dame eine Weile schweigend zu; allmählich schien es ihr aber zu bunt zu werden, und sie trat mit der Frage an mich heran: „Glauben Sie nicht, daß Sie Ihre kostbare Zeit nutzbringender verwenden könnten?“ Sehr ermutigend klang das nicht.’ – Le bon temps viendra war auf Bourchiers Briefbogen eingeprägt. Für die drahtlose Telegraphie – ja; für die Menschheit – schwerlich. Wenige Wochen später stand die Welt in Flammen.“

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1938

Albert Patry †. NZZ, 1. Dezember 1938, Abendausgabe, Nr. 2124.
Berliner Schauspieler und Direktor des Schauspielhauses (gest. 26.11.38). – „Nun werden wir uns also nicht mehr in vorgerückter Nachtstunde, nach den Premieren des Berliner Schauspielhauses, an der Omnibus-Haltestelle treffen. Das war im Lauf der Jahre zum Brauch geworden. Der Referent kannte den Schauspieldirektor Patry seit Jahrzehnten von der Bühne her, während diesem der Referent vermutlich unbekannt war. Gleichwohl hielt er immer im Omnibus Umschau, ob der andere auch mitgekommen sei. Wenn La Rochefoucauld es als das Beneidenswerte an der Popularität bezeichnete, von Leuten gekannt zu werden, die man nicht kenne, so mag man es beneidenswerter finden, Leute zu kennen, ohne von ihnen gekannt zu sein. Albert Patry ist schon vor Jahren von der Schaubühne abgetreten und jetzt mit 74 Jahren auch von der Schaubühne des Lebens. Er war ein guter Schauspieler, dem alles Komödienhafte fernlag. Wenn er auftrat, wehte ein frischer Lufthauch über das Brettergerüst. Offiziere, Kapitäne, Gutsbesitzer – das waren die Rollen, zu deren Darstellung er sich durch Erscheinung, Wesensart, Stimmklang am besten eignete. Vielleicht war er kein großer Schauspieler; aber müssen denn alle gleich Talmas oder Garricks sein? Auch so wird Patry noch lange an der Omnibus-Haltestelle vermißt werden.“

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zuletzt aktualisiert: 18.06.19