Horst Schroeder

Nachrufe aus der Zeit der Weimarer Republik

1919 1920 1922 1923 1925 1930
1931 1932        

1919

Gedenkblätter. XIX: Robert Ross. LE, Bd. 21, Nr. 13 (1. April 1919), 779-785.
Oscar Wildes Freund und Nachlaßverwalter (gest. 05.10.18). – „Nein, Robbie, du sollst nicht ungerühmt zu den Schatten hinabgehn. Dem Lebenden ward ein Denkmal, unvergänglich von Dichtershand; dem Toten soll von einem dankbaren Bewunderer ein Kranz aus den Immortellen seiner Vorzüge geflochten werden. Er trifft nicht zu spät ein… – Als ich auf der Straße die Todesnachricht in der Zeitung las (ganz unten in einer Ecke, drei Zeilen), da versank für mich im Augenblick der Weltkrieg: alles blutige Geschehen, alle sinnlose Saat des Hasses. […] Und der Gedanke erfüllte mich: für diesen Engländer, mit dem du ein Jahrzehnt in regem Briefwechsel standest, den du fast jedes Jahr etliche Wochen sahst und wahrscheinlich besser kanntest als irgendein Deutscher – für diesen Ross müßtest du zeugen, daß es neben allem, was in England zu seinem Lobe erklungen ist, bestehn könnte. – […] Ross […] war Katholik, überzeugter Katholik bei aller Neigung zum Freidenkertum. […] In Dresden erzählte er mir einmal, er gehe jedes Jahr am Ostersonntag in die Kirche, wenigstens an diesem Tage; das sei ihm Bedürfnis. […] – Den Bilderhändler lernte ich im Jahre 1904 kennen. […] Als wir uns Mitte Juni 1914 in London voneinander trennten, dachte wohl keiner von uns beiden, daß Englands und Deutschlands Schicksalsstunde so bald schlagen werde, daß Umnachtung und ewige Nacht drohten. – Ich weiß nicht, wie Robert Ross während des Krieges dachte, ob er am Ende nicht auch von der allgemeinen Hirngrippe heimgesucht wurde. Es ist schwer anzunehmen. Denn ich weiß, wie Robert Ross vor dem Kriege dachte. – Als er die große, von ihm mit unendlicher Mühe herausgegebene Wilde-Gesamtausgabe glücklich unter Dach und Fach gebracht hatte, wurde ihm zu Ehren, am 1. Dezember 1908, im Ritz-Hotel in London ein Bankett veranstaltet; dabei hielt er vor zweihundert Teilnehmern (darunter einflußreichen Politikern und den Oberpriestern der Kunst) eine Rede, deren Kernstück hier zum ersten Male aus dem Manuskript wiedergegeben sei: ‚… Und jetzt möchte ich einige möglicherweise falsche Eindrücke bei Ihnen beseitigen. Erstens: daß ich für die Bezahlung von Wildes Schulden verantwortlich sei. Deutschland hat dies zuwege gebracht; im großen und ganzen wurden sie aus den Einnahmen der deutschen Aufführungen seiner Stücke bezahlt, hauptsächlich der Salome, lange bevor, wie ich hinzufügen möchte, Dr. Strauß die Worte in Musik gesetzt hat. Und Dr. Max Meyerfeld in Berlin war es, der mich, wie ich schon an anderer Stelle erklärt habe, überredete, De Profundis zu veröffentlichen, so daß ich der Wahrheit gemäß sagen darf: Oscar Wildes auferstandener Ruhm ist „made in Germany“. – Ich muß gestehn – und wer mich als den Förderer einer unbeliebten, doch nie verlorenen Sache kennt, wird nicht überrascht sein – ich muß gestehn, daß ich ein Deutschenfreund bin. Sie dürfen nicht gekränkt sein, denn Sie werden sich daran erinnern: auch Shakespeares Ruhm wurde „made in Germany“. – Ich bekenne, daß ich das Land liebe, dessen Literatur ich bloß in Übersetzungen würdigen kann; wie vieler anderer, die in Frankreich geboren sind, ist mein Herz auf dem andern Ufer des Rheins. Und doch vermute ich, daß die meisten von uns, zeitweilig alle, deutschfreundlich gesinnt sind, wenn wir des großen Volkes gedenken, das Europa einen Dürer, Holbein, Goethe, Heine, Schopenhauer, Nietzsche, Gerhart Hauptmann und das moderne Drama geschenkt hat, das die lebendigste dramatische Kraft in Europa geworden ist; deshalb müssen Sie mich entschuldigen, denn dieses Volk war es auch, das Oscar Wilde – nicht zu einem europäischen Namen, sondern zu einem englischen Namen gemacht hat, der in drei Erdteilen berühmt ist. […]’ – Schon diese Stelle zum Preise Deutschlands – und dabei sind die Musiker vergessen, unser Sternenglanz! – rechtfertigt es, daß hier, in einer literarischen Zeitschrift, von Robert Ross die Rede ist. […] – Als Freund und Nachlaßverwalter Oscar Wildes wird Robert Ross fortleben. […] In den letzten Jahren, als er das ihm anvertraute Schiff schon im Hafen sicher geborgen wähnen durfte, wurde es noch einmal auf das hohe Meer hinausgestoßen. Lord Alfred Douglas, der sich durch die Veröffentlichung der an ihn gerichteten, ihn richtenden Wilde’schen Beichte in seiner Eitelkeit tödlich beleidigt fühlte, schreckte mit wahrer Desperado-Tollheit und teuflischer Bosheit nicht davor zurück, widerliche Prozesse heraufzubeschwören. Indem er den nachträglich kanonisierten Oscar Wilde an den Pranger stellte, glaubte er, Robert Ross in seiner menschlichen Ehre zu vernichten. Aller Schmutz aus den früheren Gerichtsverhandlungen wurde wieder angefahren. Es war ein Kampf bis aufs Messer. Ich weiß nicht, ob und wie er entschieden wurde; ich weiß nur, auf welcher Seite die Sympathien aller anständigen Engländer waren. […] – Und nun, nachdem ich den Menschen Robert Ross zu schildern versucht habe, will ich nicht länger zögern, das kurze Gedicht mitzuteilen, das mir die Nachricht von seinem Tode entlockt hat: Robbie. | Und alle Heiligen kamen ihm / in langem Zug entgegen. / Er wußte nicht, wie ihm geschah, / und senkte scheu den Blick. / ‚Tritt ein! Du hast den Himmel dir / auf Erden reich verdient. / Wer so dem Freund in seiner schwersten Stunde beistand, / im Leben wie im Tode ihn mit Liebe hegte; / wer unbeirrt der Stimme seines Herzens folgte / und durch die Wut der Welt mit Kinderaugen schritt, / hat mehr getan als mancher unter uns. / Was zauderst du? Tritt ein! Auch hier gilt Treue.’ / Und Robbie sprach, von Purpur überströmt: / ‚Warum hat Gott den eignen Sohn / in seiner höchsten Not verlassen?’

Gustav Landauer. Ernte. Jahrbuch der Halbmonatsschrift DAS LITERARISCHE ECHO, ed. Ernst Heilborn, Bd. 1, Berlin 1919, 45-51.
Schriftsteller, Übersetzer und Anarchist (am 02.05.19 im Gefängnis ermordet). – „Wenn er mir so gegenübersaß, oft eine Zigarette an der andern ansteckend, und in seiner gescheiten, dem Esprit abholden Art mit mir plauderte, hatte ich die Empfindung: diesem grundgütigen, von einem brennenden Gerechtigkeitsgefühl erfüllten Menschen ist nichts Menschliches fremd; der kennt die Höhen und Tiefen; dem haben die Allgemeinheiten und Gemeinheiten des Lebens nicht mehr als die Sohlen zu beschmutzen vermocht. Ich hätte ihn nie eines unschönen Gedankens für fähig gehalten, nie einer Tat, deren er sich zu schämen brauchte. Beginge er je eine Sünde wider die Gesellschaft, so wäre er des Glaubens gewesen, durch diese Sünde die wahre Vollkommenheit seiner Seele zu erreichen. Darin einem Sokrates ähnlich. Bisweilen schien ihn ein sanfter Glanz zu umschweben wie den Pilger Luka in Gorkis Nachtasyl, der jeden, mit dem er in Berührung kommt, irgendwie besser zurückläßt oder doch zu innerer Einkehr, zur Selbsterkenntnis zwingt. Gustav Landauer besaß entschieden russische Wesenszüge, wie sie in letzter Prägung bei Dostojewski begegnen. – Meist unterhielten wir uns über literarische Dinge. Ich las ihm unveröffentlichte Arbeiten vor, um sein Urteil zu erfahren; denn vermöge seiner umfassenden Bildung war er wie wenige befähigt, scharf zu sehn. Das ist ja – der Name sagt es – des Kritikers Natur. Als solcher ist er einmal für mich oder vielmehr für eine von mir übertragene, im Deutschen Theater durchgefallene Dichtung öffentlich eingetreten. ‚Ich halte Wildes Florentinische Tragödie’ – schrieb er mir nach der ersten Aufführung ganz spontan – ‚für ein kleines Meisterstück, wobei sich allerdings über den Schluß allerlei sagen läßt. Die Kritik, die ja in Berlin nur das Mundstück des dummen Publikums ist, hat natürlich völlig versagt.’ Heut urteilt die Welt wie Landauer. Übrigens fing er schon damals an, vom Blendwerk Reinhardtscher Regie, gleich den besseren Mitteleuropäern, abzurücken. – […] Als ich wieder von ihm hörte, zeigte er den Tod seiner Frau [Hedwig Lachmann, gest. 21.02.18] an. Nachher schickte er mir die für einen engen Freundeskreis gedruckten Aufzeichnungen Wie Hedwig Lachmann starb. Ich las das dünne Heft mit wärmstem Anteil; als ich es gelesen hatte, konnte ich das Gefühl nicht los werden, daß ein hoher Geist aus den Angeln gehoben sei. […] Vielleicht wurde Gustav Landauer durch diesen Keulenschlag des Schicksals aus seiner Bahn geworfen. ‚Who knows on what path he shall meet his fate?’ Ich wunderte mich, daß er den diskreditierten Düsseldorfer Dramaturgenposten angenommen hatte. Ich wunderte mich nicht, daß er, von Eisners Irrlicht gelockt, plötzlich im Strudel des Münchner Putsches auftauchte. Was auch die Zeitungen über ihn zusammengeschwatzt haben: wer ihn kannte, wird bis zuletzt den Glauben an diesen aufrichtigen, edlen, freien Menschen bewahrt haben, den Glauben, daß er keiner häßlichen Handlung, keiner unschönen Regung fähig war. Wie wenigen läßt sich das nachrühmen? – Der im Massengrab modernde Gustav Landauer hat der Menschheit Wertvolleres geleistet als der bei lebendigem Leibe verfaulte Woodrow Wilson.“

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1920

August Stein. NZZ, 18. Oktober 1920, Zweites Morgenblatt, Nr. 1710.
Politischer Korrespondent der Frankfurter Zeitung in Berlin von 1883 bis kurz vor seinem Tod (gest. 13.10.20). [Auszugsweise abgedruckt im LE, Bd. 23, Nr. 5 (01.12.20), 292.] – „Unter dem Strich tauchte August Stein leider nur vereinzelt und zuletzt immer spärlicher auf. Und doch waren seine Feuilletons Leckerbissen […]. Mir sind die Schilderungen, die er als ‚Irenäus’ von Berliner Gesellschaftsereignissen, besonders von dem alljährlich im Opernhaus veranstalteten Subskriptionsball entwarf, in dankbarer Erinnerung geblieben. […] Er kannte Gott und die Welt, also hier: den Hof und die bürgerlichen Kreise; er kannte die Stelle, wo jeder sterblich war. Es reizte ihn bisweilen, sie mit feiner Ironie zu kitzeln. Nicht, als ob er Indiskretionen begangen hätte; dazu schätzte er die vita privata zu hoch. Doch es gab für die Kenner reizvolle Andeutungen. Ich könnte mir vorstellen, daß ein rühriger Verleger diese Gesellschaftsbilder August Steins nach Jahr und Tag ausgräbt und sie, vorausgesetzt, daß ihre Zahl stattlich genug ist, zu einem unterhaltsamen Bändchen vereinigt. – Der Schriftsteller August Stein, auch darin noch ein echter Journalist und ganz uneitel, hüllte sich in den Mantel der Anonymität, der eine vielseitige Persönlichkeit deckte. Noch persönlicher wirkte er freilich als Erzähler. Ich stehe nicht an, ihn für den besten Erzähler, der mir in Deutschland begegnet ist, zu erklären. Das will etwas besagen, denn ich habe Paul Lindau genossen, der mir ein wenig überschätzt scheint, und mich auch an Hermann Bahrs Fabulierkünsten gelabt. August Stein, der ja nie Anspruch auf poetische Erfindungsgabe machte, war sachlicher, gedrängter und mindestens ebenso amüsant. – Die Kunst des mündlichen Erzählens von Anekdoten, Schnurren, Menschlichkeiten bekannter Zeitgenossen, kleinen Klatschgeschichten steht bei uns nicht sonderlich hoch im Kurs, vielleicht weil sie ohne letzte Phantasie, ohne Grazie, ohne Charme geübt wird. Ich habe das Glück gehabt, mit zwei so erlesenen Plauderern wie George Moore und Robert Ross befreundet zu sein, und ihrem unerschöpflichen Reichtum an Geschichten begeistert gelauscht. Daneben verblaßt – das muß ohne jegliche Überschätzung fremden Wesens, einfach der Wahrheit gemäß, festgestellt werden – alles, was auf diesem Gebiete made in Germany ist. – Als ‚talker’ (wir haben keinen völlig deckenden Begriff, denn bei Erzähler denkt man zu leicht an den Romanschriftsteller) scheint mir August Stein unerreicht. […] Ich hörte oft, daß er an seinem Stammtisch im Kaiserhof, wo ich ihn nie gehört habe, Gerechte und Ungerechte mit attischem Salz bestreute. Dafür durfte ich ihm in seinem Redaktionszimmer jahrelang unter vier Ohren lauschen. Und als wir einmal zusammen nach Rügen fuhren, vertrieb er mir einen endlosen Regentag mit der endlosen Fülle seiner ‚Läuschen und Rimels’. Es war ein Hochgenuß. Ich habe zu Füßen eines Meisters gesessen.“

Gedenkblätter. XXIII: August Stein. LE, Bd. 23, Nr. 6 (15. Dezember 1920), 329-331.
Vgl. vorigen Nachruf. – „Ein homo nullius libri. Er hat, meines Wissens, niemals ein Buch geschrieben. Wie auf ihn gemünzt scheint das Wort: ‚He has never written a single book, so you can imagine how much he knows.’ [Oscar Wilde, The Importance of Being Earnest]. Tatsächlich dürfte es kaum einen Zeitgenossen gegeben haben, der mehr Menschen des öffentlichen Lebens gekannt, der diese Menschen besser gekannt hat, der so wie er Bescheid wußte im kribbelnden Getriebe der Politik.”

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1922

Intendant v. Hülsen †. NZZ, 26. Juni 1922, Zweites Morgenblatt, Nr. 835.
Georg Graf v. Hülsen-Haeseler, Generalintendant der Königlichen Schauspiele Berlin, Wiesbaden, Kassel und Hannover sowie der Königlichen Hofmusik (gest. 21.06.22). – „Da Georg v. Hülsen-Haeseler, der letzte königlich preußische Generalintendant der Hoftheater, der jetzt kurz vor Vollendung seines vierundsechzigsten Lebensjahres gestorben ist, stark von ‚wilhelminischer’ Aura umgeben war, muß er es sich gefallen lassen, daß ihm vielfach die Exzesse seines autokratischen Herrschers angekreidet werden. […] Seine Nachrufe sind im günstigsten Fall auf den Ton gestimmt: er wollte das Beste; er konnte nicht anders; die Hände waren ihm gebunden. Das trifft unbedingt auf die Gestaltung des Spielplans im ehedem Kgl. Schauspielhaus zu, wo Tradition an Stagnation grenzte und moderne Schriftsteller nur Einlaß fanden, wenn sie sozusagen stubenrein waren oder der europäische Ruhm, den sie mit den Jahren geerntet hatten, ihre dubiöse Vergangenheit in milderem Lichte erscheinen ließ. War dieser Hülsen auch in vieler Hinsicht ein Schleppenträger des herrschenden Systems, bloß Vollstrecker des Allerhöchsten Willens, so hat er doch unbestreitbar die Berliner Oper, der seine Vorliebe gehörte, auf glorreicher Höhe gehalten. […] Hülsens Ehrgeiz strebte gewiß nicht nicht nach neuen Zielen. Als treuer Diener seines Herrn hat er die Kunstinstitute, deren Führung ihm anvertraut war, zuchtvoll verwaltet. Die Sache stand ihm höher als die Mehrung seines Privatruhms. Das war das Preußische an ihm. Beschimpfe es, wer davon keinen Tropfen im Blute hat. Erst die Entwicklung wird erweisen, was der Kunst auf die Dauer bekömmlicher ist: die persönliche Eitelkeit der leitenden Stellen oder die Befolgung des englischen Wappenspruchs ‚Ich dien’.“

Clara Meyer †. NZZ, 27. Juli 1922, Erstes Abendblatt, Nr. 986.
Schauspielerin (gest. 24.07.22). – „Ältere Herren mit grauen Zylindern und weißen Gamaschen schwärmten für sie; die in mittleren Jahren erinnern sich einer wohlerhaltenen Matrone; die Jugend kennt kaum ihren Namen. Es sei denn, daß sie theatergeschichtliche Studien treibt und in den Causerien über Theater von Theodor Fontane Bescheid weiß. Dort wird keine Schauspielerin öfter genannt als Clara Meyer, die jugendliche Heldin und Liebhaberin des Berliner Königlichen Schauspielhauses in den 1870er und 80er Jahren.“

Ludwig Hartau †. NZZ, 7. November 1922, Zweites Morgenblatt, Nr. 1454.
Berliner Schauspieler (gest. 31.10.22). – „[Im Theater in der Königgrätzer Straße] hat er als Protagonist, zumal in Strindbergs und Ibsens Dramen, Unvergeßliches geschaffen. Am unvergeßlichsten bleibt sein Offizier im Traumspiel. Wie er da mit beseeltester Stimme, in der alle Seligkeit eines Liebenden nachzitterte, ‚Victoria!’ rief, das wird im Ohre haften, das wird leben, solange einer lebt, der das vernommen.“ (Vgl. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 24.03.16, Nr. 468).

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1923

Rudolf Schildkraut †. NZZ, 29. Januar 1923, Erstes Abendblatt, Nr. 132.
Schauspieler. – „Er blieb etwas Elementares. Eine alttestamentarische Wucht strömte von ihm aus. Er wetterte mit dem Ingrimm eines Propheten. Und in seiner Komik besaß er einen Saft, der mitunter etwas Schmalziges hatte. […] Modern differenzierte Menschen waren Rudolf Schildkrauts Sache nicht. Er führte alles auf die Urtriebe zurück. Stark im Haß, stark in der Liebe – das war seines Wesens und seines Könnens Dominante. Leider litt es den Unsteten nie lange in einem wohldisziplinierten Lager. Er ging nach Amerika, verschrieb sich dem Jiddischen Theater, wo er geniale Schmiereneffekte gewißt nicht verschmähte, und ward bei uns nicht mehr gesehen. Immer auf der Suche nach neuen Rollen, hatte er doch eine Mordsangst davor, weil ihm sein Gedächtnis manch üblen Streich spielte. Ich erinnere mich einer Premiere, an der ich mehr als platonischen Anteil hatte, da brachte es Schildkraut in der Aufregung fertig, entscheidende Sätze, die im Schlußakt standen, schon im ersten Akt zu sprechen [bezieht sich entweder auf die Aufführung der Herzogin von Padua (Oscar Wilde) oder des Heiligen Brunnens (J.M. Synge) – s. Rubrik ‚Selbständige Veröffentlichungen’]. Er war ein berüchtigter ‚Schwimmer’, aber der Vehemenz seiner Gestalten tat das selten Abbruch.“ – Eine Woche später wurde der Nachruf von der Redaktion korrigiert: „Schildkraut lebt noch. In Amerika geht er seiner Gastspieltätigkeit nach. Die Nekrologe werden ihm mehr oder weniger Spaß machen.“ (NZZ, 06.02.23, Nr. 168.) Vgl. unten NZZ vom 18.07.30, Nr. 1418.

Richard Alexander †. NZZ, 29. Mai 1923, Zweites Morgenblatt, Nr. 719.
Schauspieler und von 1904 bis 1912 Direktor des Residenz-Theaters in Berlin (gest. 24.05.23). – „Eigentlich war er nur eine Berliner Lokalberühmtheit; aber eine, die jeder Fremde, der in die deutsche Hauptstadt kam, gesehen haben mußte, wenn er am Stammtisch seines Abdera über das Sodom an der Spree mitreden wollte. Richard Alexander war schon unter Lautenburg und später, als er selbst Direktor wurde, die Seele des Residenz-Theaters, wo die gepfefferten Possen französischen Ursprungs ihre Heimstätte hatten. Dort spielte er jahrzehntelang den Schwerenöter in tausend Verlegenheiten. […] Vielleicht war sein Genre nicht groß, doch er war groß in seinem Genre. […] Und wenn es auch immer dasselbe war, was er spielte, und wenn er auch immer derselbe war – den abgedroschensten Späßen kam der Schimmer seiner hinreißend liebenswürdigen Persönlichkeit zustatten. […] Als der Siebzigjährige freilich vor kurzem zu einem Gastspiel ans Residenz-Theater zurückkehrte (in einer seiner Glanzrollen: als ‚Schlafwagenkontrolleur’), fand er wohl doch nicht mehr wie früher den Anschluß an sein Stammpublikum. Die Zeit ist mittlerweile zu Sechstagerennen und Boxkämpfen und Nackttänzen vorgeschritten; die Gewagtheiten von damals gelten jetzt als zahm und lahm. In harmloseren Tagen, als die Franzosen mit dem Schwank statt mit dem Tank zu uns kamen, hat Alexander manchen Sieg für sie erstritten und ungezählten Menschen frohe Stunden bereitet.“

Exeunt Fliegende Blätter. NZZ, 30. August 1923, Zweites Abendblatt, Nr. 1178.
In Gedichtform abgefaßter ‚Nachruf’ auf die illustrierte humoristische Zeitschrift (1844-1944), deren Ende gekommen zu sein schien: „Wollt Ihr ewiglich Euch von uns wenden, / keinen Stoff zum Lachen mehr uns spenden, / von der Zeiten Wandel hingemäht? / Wer wird künftig unsre Kleinen lehren, / Eure harmlos-heitern Typen ehren, / wenn Ihr zu dem finstern Orkus geht? – Doch nicht sang- und klanglos sollt Ihr sterben, / ist verblaßt auch Euer Ruf auf Erden, / da Euch schärfre Blätter überstrahlt. / Selbst der Enkel wird noch gerne lesen, / was in guter alter Zeit gewesen, / gerne sehn, was damals man gemalt! – So zum letzten Male angefahren / Kommen launiger Gestalten Scharen / In dem Kahn zu Lethes stillem Strand. / Bei der alten Jungfer sitzt ein kesser / Schusterjunge, und der Herr Professer / hält die Schwiegermutter an der Hand. – Aufgereiht zur danse macabre schleichen / dann vorüber all die witz’gen Leichen, / die gar oft zum Lächeln uns gebracht. / Was uns einmal wöchentlich erfreute, / zieht jetzt als des grimmen Todes Beute / in der Schatten Hallen. Gute Nacht!“ Am folgenden Tag erfolgte bereits das Dementi durch die Redaktion der NZZ: „Die Fliegenden Blätter, zu deren Ehren gestern abend an dieser Stelle das Sterbeglöcklein poetisch geläutet wurde, sollen deutschen Blättern zufolge nun doch weiter erscheinen.“ (NZZ vom 31.08.23, Nr. 1180) .

Guido Herzfeld †. NZZ, 21. November 1923, Erstes Abendblatt, Nr. 1609.
Schauspieler (gest. 16.11.23). – „So etwa wird sich die Zeitungsnotiz ausnehmen: Guido Herzfeld, ein Berliner Schauspieler, zuletzt an der Volksbühne tätig, ist im Alter von sechzig Jahren einem Gehirnschlag erlegen. – Es wäre grausam ungerecht, den exzeptionellen Künstler mit einer so kargen Meldung für Zeit und Ewigkeit abzutun. Wenn er auch nicht für alle Zeiten leben wird, weil seines Wirkens Spur mit seiner Stimme Klang verweht ist, so hat er doch den Besten seiner Zeit genug getan. Sie wußten, was sie an ihm hatten, und schätzten ihn dementsprechend. Sie waren sicher, bei ihm, so oft er auftrat, reine Menschlichkeit zu finden, und fanden sie – frei von allem Komödiantentum. Er war bloß ein Chargenspieler, ein Episodist, aber was er anfaßte, empfing durch ihn seelischen Widerhall. Wenn die Helden auf den Brettern brüllten, die Protagonisten schwitzten, die Mimen rings im Kreise sich in Körperwärme hineinarbeiteten, dann strahlte sein zurückhaltendes Wesen seelische Wärme aus. Er brauchte nur den Mund zu öffnen, brauchte nur mit den pfiffigen Äuglein zu zwinkern, und es war, als ob man aus dem Lande der Dekorationen in die schmucklosen Gefilde der Natur versetzt würde. Höchste Bescheidenheit war seine Zier. Sie wob seinen Pilgern, Bettelmönchen, seinen rührenden Volksgestalten, aller leidenden Kreatur den Heiligenschein. Wer im Reiche der Rampen – und nicht nur dort allein – von sich selbst nicht viel hermacht, von dem wird auch nicht allzu viel Wesens gemacht; doch wichtiger bleibt es, wesentlich zu sein. Die lebenden Reklamebilder mögen den vergänglichen Ruhm an sich raffen; von Guido Herzfeld muß es immer heißen, bevor er für ewig verstummte, daß er ein stiller Künstler war.“

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1925

Gedenkblätter. XXX: William Archer. LE, Bd. 27, Nr. 6 (März 1925), 340-342.
Schottischer Theaterkritiker, Ibsen-Übersetzer und Autor des Stückes The Green Goddess (gest. 27.12.24). – „Theaterkritiker; Ibsen-Übersetzer; Verfasser der Grünen Göttin – wird es genügen, ihm Nachruhm zu sichern? – Dreiundzwanzigjährig fing er mit Theaterkritiken an. Zuerst am Londoner Figaro (längst eingegangen). Dann über zwanzig Jahre bei der World (auch längst verschollen). Hernach an der Tribune (wohl der besten Tageszeitung, die es je gegeben hat; dafür hielt sie sich auch kaum länger als ein Jahr, während Schundblätter leben, wachsen, gedeihen.) [Die Verherrlichung der Tribune ist nicht von ungefähr: am 9. Juni 1906 hatte William Archer in dieser Zeitung ein langes Interview mit MM über ‚The English Drama in Germany’ veröffentlicht; und am 20. November des gleichen Jahres war in der Tribune unter MMs eigenem Namen ein Artikel über die neu gegründeten Kammerspiele des Deutschen Theaters erschienen: ‚A Theatre for the Elect’. (Siehe die Rubrik ‚Essays’ in dieser Bibliographie.)]. […] – Von früh auf stellte Archer in seinen Kritiken die Sache, die er diente, höher als seine Person. […] Ihm war es mehr darum zu tun, ein Stück zu preisen als sich selbst anzupreisen, sachlich zu beschreiben, wie ein Werk in Szene gesetzt worden war, als sich selbst in Szene zu setzen. Manche fanden das auf die Dauer dry (keine üble Sektmarke); doch ich erinnere mich, mit wie ehrlichem Beifall die Artikel, die er für das Berliner Tageblatt über seine Berliner Theatereindrücke schrieb [s. Berliner Tageblatt, 20.10.06, Nr. 535; 24.10.06, Nr. 542; 29.10.06, Nr. 551], gerade von Bühnenleuten damals begrüßt wurden. – […] Der mehr als Sechzigjährige kehrte zu seiner Jugendliebe zurück und fand späte, doch nicht zu späte Erhörung. ‚Sie werden erstaunt sein, zu vernehmen,’ schrieb er mir am 26. Juli 1921, ‚daß ich mich zum Dramatiker entwickelt habe und, was mehr besagen will, zum erfolgreichen. Ein Stück von mir, Die grüne Göttin, steht in Neuyork schon mehr als zweihundertmal auf dem Spielplan und zieht noch immer […].’ Und in seinem letzten Brief an mich vom 1. Oktober 1924 heißt es: ‚Die grüne Göttin hat genau ein Jahr in London gedauert. Sie ist zwischen England und Amerika mehr als zwölfhundertmal aufgeführt worden, worüber sich nicht klagen läßt.’ – […] Es freute ihn […] besonders, als ich ihm im Mai des vorigen Jahres erzählte, George Moore habe mir gegenüber den Wunsch geäußert, sich die Grüne Göttin anzusehn. Prompt erhielten wir zwei Karten zum St. James’ Theatre, doch im letzten Augenblick bekam George Moore einen so rauhen Hals, daß er seine Augen schonen wollte. – Ein Vierteljahrhundert hab’ ich diesen William Archer gekannt, und er ist mir stets ein wahrhaft guter Freund gewesen. Ohne das bißl Falschheit, das allweil dabei sein soll. Sooft ich in London war, hat er mich in allen literarischen Fragen beraten […]. Er gönnte gern andern ihren Ruhm, wenn sie seine Kreise nicht störten. Nur wo er Ungerechtigkeit, offenkundiges Unrecht witterte, ereiferte er sich mannhaft. – Das hab’ ich selbst erlebt, als ich ihm von meinem Zerwürfnis mit Bernard Shaw Mitteilung machte. Archer wollte es nicht glauben, daß Shaw im Londoner Athenaeum [04.04.08, S. 418] – wohlweislich ohne Namen zu nennen – die Beschuldigung ausgesprochen hatte, die kritischen Angriffe gegen seinen deutschen Verschandeler gingen von Leuten aus, die sich bei ihm erfolglos um die Übersetzungsrechte seiner Dramen beworben hätten; wollte diese Verdächtigung so wenig glauben, daß er Shaw deswegen zur Rede stellte. Voll Trauer im Herzen berichtete er mir, das einzige, was Shaw auf seine Vorhaltungen erwidert habe, sei gewesen, er lasse sich von keinem in die Suppe spucken. ‚And there was an end to it.’ Uns aber wollte es bedünken, daß es leichter sei, einer ganzen Welt Ethik zu predigen, als diese Ethik für die eigene Person zu befolgen. – … Im Krieg hatte William Archer die Contenance verloren, war über Nacht ein Deutschenfresser geworden. Wie konnte dieser geruhige Mensch, der es anders wußte, sich so vergessen? Später wurde mir alles klar, als ich erfuhr, daß sein einziger Sohn gefallen war. Solche Schicksalsschläge können auch dem Besten die Selbstbeherrschung rauben. – Umso größer war meine Freude, als ich im Juni 1921 folgendes Schreiben von ihm erhielt: ‚Ich weiß nicht, wie Sie über die Ereignisse seit 1914 denken, aber ich für meinen Teil sehe keinen Grund, warum wir nicht die Vergangenheit vergangen sein lassen und unsern alten Briefwechsel wiederaufnehmen sollen.’ Ich antwortete mit der gebotenen Zurückhaltung, sah aber für meinen Teil keinen Grund, die mir hingereichte Hand nicht zu ergreifen. – Im Sommer des vorigen Jahrs war ich öfters mit ihm in London zusammen. […] Lud er früher in den National Liberal Club ein, so trafen wir uns jetzt im Reform Club.“

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1930

Rudolf Schildkraut †. NZZ, 18. Juli 1930, Mittagausgabe, Nr. 1418.
Schauspieler (gest. 15.07.30). Vgl. oben den verfrühten Nachruf in der NZZ vom 29.01.23, Nr. 132. – „Vor sieben Jahren ist er schon einmal totgesagt worden; er hatte so das zweifelhafte Vergnügen, seine Nekrologe zu lesen (auch den in der NZZ vom 29. Febr. [sic] 1923). Diesmal will es indes scheinen, als könne er sich nicht wieder eines Bessern besinnen. Er hat in den verflossenen sieben Jahren mit der deutschen Bühne nichts mehr zu schaffen gehabt. Das Jiddische Theater in New York und der amerikanische Film hatten ihn mit Haut und Haaren verschlungen. Er spielte drüben für Glaubensgenossen, aber sehr primitive Glaubensgenossen, denen die Träne rinnt, wenn die Gefühlskiste mit erprobten Effekten aufgeklappt wird. Auch im Film beschränkte er sich auf die Darstellung hebräischer Väter mit gebrochenem oder brechendem Herzen. Der Heldenvater war also bei ihm ein Märtyrervater, der von den eigenen Kindern oder von bösen Menschen bloß Undank erntet. König Lear (Schildkrauts zweite Paraderolle) für die Unterklassen. Über das alte Testament kam er nicht hinaus: da war er freilich von elementarer Wucht. Die Welt blieb mittlerweile nicht stehen, aber sie wird dem urwüchsigen Künstler, in dem sich ein Stück vom Schmierenkomödianten niemals unterdrücken ließ, seinen mit der Kraft eines Naturereignisses wirkenden Shylock nicht vergessen.“

Hans Peppler †. NZZ, 23. Dezember 1930, Morgenausgabe, Nr. 2543.
Schauspieler (gest. 20.12.30). – „Erst im Anfang der vierziger Jahre stehend, ist der Schauspieler Hans Peppler einer Herzschwäche erlegen, die sich im Gefolge einer Blinddarmoperation einstellte. Mit Beginn der vorigen Spielzeit kam er von Wien an die Berliner Volksbühne. Gleich bei seinem ersten Auftreten als Herr Gabor in Frühlings Erwachen überzeugte er von seiner starken Persönlichkeit, und obwohl er in dieser Rolle gegen Albert Steinrücks Schatten zu kämpfen hatte, stand er durchaus seinen Mann [s. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 17.10.29, Nr. 1999]. Spätere Leistungen bestätigten und vertieften diesen Eindruck. Seitdem man Peppler in den Unüberwindlichen von Karl Kraus als österreichischen Polizeipräsidenten (in Schobers Maske) gesehen hatte, wußte man, daß er ein außerordentlicher Charakteristiker war, ungewöhnlich auch in der Wandelbarkeit seines Wesens [s. NZZ vom 23.10.29, Nr. 2041]. Sein cäsarenwahnsinniger Julius Cäsar [s. NZZ vom 05.06.30, Nr. 1098], sein Zola in der Affäre Dreyfus [s. NZZ vom 03.12.29, Nr.2352], sein Fabrikant Dreißiger in den Webern [s. NZZ vom 29.09.30, Nr. 1875], zuletzt noch der fanatische Puritaner in Georg Kaisers Mississippi [Premiere 14.11.30], legten Zeugnis dafür ab, daß bei diesem Künstler Intellekt und Phantasie glücklich vereint waren. Das Schicksal hat es ihm noch vergönnt, in die erste Reihe zu gelangen; er hätte sich gewiß bei längerer Dauer ‚höchst königlich bewährt’. Nicht nur die Volksbühne hat ihren größten Darsteller verloren, auch in der an Persönlichkeiten reichen Schauspielerstadt Berlin wird man Hans Peppler noch lange schmerzlich vermissen.“

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1931

Kleine Chronik. NZZ, 3. März 1931, Abendausgabe, Nr. 393.
Berthold Held, Leiter der Schauspielschule des Deutschen Theaters in Berlin (gest. 27.02.31). – „Er [Held] kannte Max Reinhardt von seinen Bühnenanfängen her, machte seinen Aufstieg in Berlin mit und hielt ihm in allen Fährlichkeiten die Treue. Als Leiter der dem Deutschen Theater angegliederten Schauspielschule, die vor kurzem ihr 25jähriges Bestehen feiern konnte, hatte Held die Genugtuung, eine größere Zahl überaus begabter Eleven heranzubilden, die rasch in die Reihen der Prominenten aufrückten. Persönlich hielt er sich immer bescheiden im Hintergrund.“

Kleine Chronik. NZZ, 11. März 1931, Abendausgabe, Nr. 453.
Lupu Pick, Schauspieler und Filmregisseur (gest. 07.03.31). – „Lupu Pick, der bekannte Berliner Schauspieler und Filmregisseur, ist unter etwas mysteriösen Umständen, die als Vergiftungserscheinung gedeutet wurden, plötzlich gestorben. Er gehörte zu den stillen Chargendarstellern, die von sich wenig hermachen, dafür ganz in ihren Rollen aufgehn. Aus der Verkörperung seiner alten Männer mit runzelreichem Gesicht, lustig oder listig zusammengekniffenen Äuglein, rostiger Stimme, sprach viel menschliche Güte. Zuletzt sah man ihn vor Jahresfrist auf der Bühne des Lessing-Theaters in Pirandellos katastrophaler Stegreifkomödie [s. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 05.06.30, Nr. 1098]. Er hatte sich schon vor längerer Zeit von der Sprechbühne fast ganz zurückgezogen und war zum Film übergegangen. Dort mied er die blumigen Auen an Neckar und Donau und suchte Neuland zu gewinnen. Seinen Filminszenierungen wird, wenn ihnen auch kein breiter Publikumserfolg beschieden war, hohes künstlerisches Gestaltungsvermögen nachgerühmt.“

Berliner Theater. NZZ, 22. März 1931, Zweite Sonntagausgabe, Nr. 529.
Adolf Klein, Schauspieler (gest. 11.03.31). – „Adolf Klein, der Nestor der deutschen Schauspieler, ist im Alter von 83 Jahren gestorben. Das heutige Geschlecht kennt wohl kaum noch seinen Namen, aber in der Theatergeschichte wird er als Ur-Trast in Sudermanns Ehre fortleben. Theodor Fontane rühmt ihm in seinen Causerien über Theater schöne Natürlichkeit, bemerkenswert gute Schulung nach. ‚Er gehört einer Schule an, die alle Effekte vermeidet, vielleicht mit Ausnahme des Effekts der Effektlosigkeit.’ Klein hat am Kgl. Schauspielhaus in Berlin lange die klassischen Rollen in seiner unpathetischen Art dargestellt und wirkte dann unter Blumenthal im Lessing-Theater, wohin er für das moderne Konversationsstück seine gute Haltung und seine deutliche Sprechweise mitbrachte. Er gehörte noch zu jenen altmodischen Künstlern, die des Glaubens lebten, das, was auf der Bühne gesprochen werde, müsse von den Zuschauern verstanden werden.“

Kleines Gedenkblatt. In memoriam Alan C. NZZ, 21. Juli 1931, Morgenausgabe, Nr. 1395.
Ein junger, nicht näher identifizierter australischer Journalist, der sich 1930 das Leben nahm, als er für seinen Roman keinen Verleger fand. – „Vor vier Jahren, an einem verregneten Sonntag in Berlin, lernte ich auf der Straße durch einen befreundeten Engländer, der sich inzwischen als Regie-Assistent an einer deutschen Opernbühne versucht hat, einen jungen Australier (oder war er Neuseeländer?) kennen, den die Liebenswürdigkeit seines Wesens sogleich empfahl. Der prachtvolle Kopf mit den straffen Zügen und dem franken Blick sowie die athletische Gestalt ließen an einen englischen Flieger denken. Er mochte Mitte, höchstens Ende der Zwanziger sein, von Beruf Korrespondent der – also sagen wir: Morning Gazette in London. Ohne alle Kenntnis der deutschen Sprache war er nach Berlin gekommen, um sich einige neuere Theaterstücke anzusehen. Da ich für eine Nachtvorstellung, die am folgenden Abend in einem Revue-Theater des Kurfürstendamms sein sollte, eine Karte übrig hatte, lud ich den australischen Kollegen dazu ein. […] ‚Es scheint fast unglaublich’ – schrieb er mir nachher in einem Dankbrief –‚ ‚daß ich jemals mit Ihnen vor dieser heitern Revue gesessen und um 2 Uhr früh Heringssalat und Würstchen verzehrt habe. […] Jetzt, da ich mich wohl und glücklich fühle’ – heißt es in dem Brief weiter –, ‚hoffe ich, mein Buch zu beschleunigen. Wenn ich tüchtig daran arbeite, sollte ich imstande sein, die erste Fassung innerhalb der nächsten paar Monate fertigzustellen. Aber ich muß es in den Zwischenpausen tun, wenn ich nicht meinen Lebensunterhalt zu verdienen habe; und es gibt so viele Schwierigkeiten.’ Das Buch, von dem mir Alan C. (so hieß der junge Mann) schon in Berlin gesprochen hatte, war ein Roman. Der sollte ihn aus der journalistischen Fron befreien und ihn als Schriftsteller legitimieren. – Wenige Wochen später sahen wir uns in London wieder. Wir aßen mehrmals in einem ausgezeichneten kleinen italienischen Restaurant zusammen, und eines Abends lud ich Alan C. zu einem Empfang ein, weil ich ihn mit einigen namhaften jüngern Schriftstellern bekannt machen wollte. Dort lernte er auch meinen Freund Osbert Sitwell kennen. – Im Januar des nächsten Jahres erhielt ich noch einen Brief von Alan C. ‚Es wird schon wärmer, und die Tage scheinen sich, sehr zu meinem Entzücken, in die Länge zu dehnen. […] [M]it den länger werdenden Tagen kommen meine Lebensgeister wieder zum Vorschein. Ich habe sogar wieder ein eigenes Werk begonnen, nach zwei Monaten völliger Stockung.’ – Warum diese Briefe – leider sind es nur zwei – hier zitiert werden? Weil sie ungewöhnlich gut geschrieben sind. Das wird nicht leichthin gesagt, sondern ist die Überzeugung eines Mannes, der, gering gerechnet, tausend Briefe von englischen Schriftstellern empfangen hat. Manch einer von ihnen, der es mittlerweile zu Weltruhm gebracht hat, könnte froh sein, wenn seine Privatbriefe sich auf ähnlicher Höhe hielten. Doch große Schriftsteller sind ja, wie wir wissen, keineswegs immer gute Briefschreiber […]. – Danach hab ich nichts mehr von Alan C. gehört. Auch nichts mehr von mir hören lassen. Ich hatte ihm gesagt, wenn er seinen Roman fertig und Schwierigkeiten habe, ihn unterzubringen, solle er sich vertrauensvoll an mich wenden. Gibt es für ältere Literaten etwas Selbstverständlicheres, als jüngern, aufstrebenden Kräften den Weg zu ebnen, ihnen (mit einem Ausdruck der englischen Umgangssprache) to lend a hand, d.h. in den Rock hineinzuhelfen? – […] Als ich im Juni dieses Jahres in London war, ging ich eines Morgens durch die Fleet Street, wo die Weltblätter auf engstem Raum zusammengedrängt sind. Plötzlich las ich ein Schild Morning Gazette, und ebenso plötzlich stand Alan C. vor meinem geistigen Auge. Morgen früh – heute hatte ich eine wichtige Verabredung -  werde ich hinaufgehen und mir seine Adresse geben lassen. […] – Abends war ich bei Osbert Sitwell zu Gast. Ganz kleiner Kreis, ganz zwanglos. Nach Tisch gingen wir hinauf in den mit ergötzlichen Kuriositäten vollgepackten Drawing-Room, wo der Hausherr seine sprühenden Tischgespräche fortzusetzen liebt. Er erzählte humorvoll von seinen Reisen, bis er, an mich gewandt, sich mitten im Satz unterbrach: ‚Übrigens hab ich Ihnen geschrieben, daß ich voriges Jahr in Athen, als ich auf der Akropolis stand, Alan C. traf, den jungen Australier – Sie erinnern sich doch? Er trat an mich heran und erzählte mir, er habe einen Roman geschrieben, der von sämtlichen Verlegern in London abgelehnt worden sei. Wenige Tage später las ich in einer Zeitung, Alan C. habe eine zu starke Dosis Veronal genommen und sei daran gestorben.’ – Ich hatte das Gefühl, als stände mein Herz still. Ebenso sehr wie die Todesnachricht erschütterte mich die Tatsache, daß vor ein paar Stunden mein Denken sich so stark mit dem Toten beschäftigt hatte. […] – Armer Alan! Was mag dich, der ein Liebling der Götter scheinen konnte, vor der Zeit in den Tod getrieben haben? […] Was mag dich, Alan, in den freiwilligen Tod getrieben haben? Denn – nicht wahr? – eine zu starke Dosis Veronal ist ja nicht auf ein Versehen, sondern auf Absicht zurückzuführen. War es gekränkter literarischer Ehrgeiz, der dich jenen verhängnisvollen Schritt tun ließ? Warst du davon durchdrungen, mit diesem Roman dein Bestes gegeben zu haben, und konntest du den Schmerz darüber nicht verwinden, daß dir von allen Seiten zurückscholl, dein Bestes sei nicht gut genug zur Veröffentlichung? Dann laß dir von einem, der auf diesem Gebiet so manche Erfahrung gesammelt hat, über das Grab hinaus zurufen: Auch Verleger irren. Sie geben mindestens so viele Fehlurteile ab wie richtige. Und noch die richtigen werden bisweilen erst durch die Gunst der Begleitumstände sanktioniert. Doch mit ihren Fehlurteilen ließe sich leicht ein Buch füllen. – Darum die Flinte ins Korn werfen, das war nicht wohlgetan, Alan. Wenn du aber an dir selbst verzweifeltest – das war erst recht nicht wohlgetan. Freilich ist dagegen noch kein Kraut gewachsen. – Wie herrlich wär’ es, wenn mir jetzt der Zufall das Romanmanuskript Alan C.’s auf den Schreibtisch wehte, so daß ich den ablehnenden Spruch der teuflischen englischen Verleger kontrollieren könnte. Solche Zufälle gibt es nicht? George Moore hat einmal gesagt: Wenn man ein vollendetes lyrisches Gedicht in der Wüste Sahara niederlegte, werde der Wind es gewiß in ein Redaktionszimmer tragen; so fest ist er davon überzeugt, daß künstlerische Werke nicht verloren gehen. Ich bin anderer Meinung; doch ich harre des Zephirs, der dieses unselige Manuskript auf seine sanften Schwingen nimmt und an freundlicher Schwelle fallen läßt.“

Heinrich Grünfeld †. NZZ, 30. August 1931, Zweite Sonntagausgabe, Nr. 1640.
Cellist (gest. 26.08.31). – „Am 13. November 1928 konnte Heinrich Grünfeld, der populäre Cellist, von dankbarer Freundesschar umgeben, in der Berliner Singakademie sein fünfzigjähriges Künstlerjubiläum feiern. [Vgl. MMs Hommage in der NZZ vom 13.11.28, Nr. 2082.] Er hat sich bald danach, infolge fortschreitender Arterienverkalkung, aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und nur noch gelegentlich bei Trauerfeiern die Kunst seines Instrumentes hören lassen. Langes Siechtum blieb ihm zum Glück erspart. Fast bis zuletzt bewahrte er sich seinen schlagfertigen Humor, der aus reichem Anekdotenschatz schöpfte. Man möchte sich am liebsten vorstellen, daß dieser heitere Mensch mit einem Witzwort auf den Lippen in die Ewigkeit einging, so wie er einen todkranken Freund, der sich die Trauermusik bei ihm bestellte, lächelnd fragte: ‚Was wollen Sie hören?’ Gleich beliebt am früheren Kaiserhofe wie in weitesten Schichten des Bürgertums, verstand er es, sich überall Freunde zu gewinnen, und sein Witz war nicht von der Art, ihm Feinde zu schaffen. Unzählige Bonmots segelten unter seiner Flagge, selbst wenn sie nicht von ihm stammten – der sprechendste Beweis für seine Beliebtheit. Mit Stolz durfte der gütige, stets hilfsbereite Mann von sich sagen, daß er nie einen Feind gehabt habe. Für ihn gilt die Umkehrung des Sprichworts: viel Freund’, viel Ehr’.“

Künstlers Erdenwallen. NZZ, 28. Oktober 1931, Morgenausgabe, Nr. 2039.
Der Maler Lesser Ury [ohne Namensnennung!] (gest. 18.10.31). – „Vor einigen Tagen ist in Berlin ein Maler gestorben, der zwar keine internationale Marktgeltung besaß, aber als Gründer des deutschen Impressionismus sich hoher künstlerischer Wertschätzung erfreute. Noch heute werden für kleine Straßenbilder von ihm mehrere hundert Mark von den Händlern verlangt. Man wußte, daß dieser Künstler ein weltabgeschiedenes, fast eremitenhaftes Dasein in seinem Atelier am Nollendorfplatz führte. Jetzt, bei seinem Tode, fand man ganze 37 Mark vor. Kein Bankguthaben, kein Sparkassenbuch – 37 Mark in bar und unverkaufte Bilder an den Wänden: das ist alles, was er hinterließ. Und er mußte nahezu siebzig Jahre alt werden, um es auf solchen Wohlstand zu bringen. Auch ein Zeichen dieser aus den Fugen geratenen Zeit.“

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1932

Hans Waßmann †. NZZ, 7. April 1932, Abendausgabe, Nr. 644.
Berliner Schauspieler (gest. 05.04.32). – „Einer der populärsten Schauspieler Berlins, der Komiker Hans Waßmann, ist nach kurzem Krankenlager im sechzigsten Lebensjahr gestorben. Sein Aufstieg fiel mit dem Reinhardts zusammen. Den Erfolg, der für sein Leben entscheidend wurde, hatte er mit der Darstellung des Barons in Gorkis Nachtasyl [vgl. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 04.02.03, Nr. 35]. Doch erst die Verkörperung Shakespearescher Rüpel trug ihm die Kunst der breiten Massen ein. Zettel, Bleichenwang, der Prinz von Arragon, Holzapfel in Viel Lärm um Nichts, Peter in Romeo und Julia, der junge Schäfer im Wintermärchen – das waren einige der Gestalten, denen Waßmann eine köstliche Blödigkeit mitgab. Er war eigentlich immer derselbe, aber wie er diese Dümmlinge mit echter Clownerie, nicht nur mit versoffener Nase ausstattete, das war bezwingend. Er brauchte nur in urdrolliger Maske auf der Bühne zu erscheinen, und der Kontakt mit dem Publikum war hergestellt. Neben seiner unleugbaren vis comica verdankte er das der Besonderheit seiner abgehackten, meckernden Sprechweise. Lange Zeit war er so beliebt, daß sie in jedem Kabarett imitiert wurde, und die Leute wieherten schon, wenn sie nur die Nachahmung hörten. Er vermochte sich nicht auf dieser Höhe zu halten, sank mit zunehmenden Jahren in die zweite Reihe zurück. Seine letzte Rolle war der eingelegte Berliner Droschkenkutscher in der Reinhardtschen Paraphrase von Hoffmanns Erzählungen [Premiere 27.11.31]. Dieser Künstler, der vielen Menschen viele frohe Stunden bereitete, machte zuletzt einen überaus unfrohen Eindruck. Auch das gehört zum Wesen des Komikers, der meist ein Melancholiker oder Hypochonder ist.“

Kleine Chronik. NZZ, 5. Juli 1932, Abendausgabe, Nr. 1264.
Robert Forster-Larrinaga: Autor, Schauspieler und Regisseur (gest. 02.07.32). – „Forster Larrinaga (den Vornamen hat der Doppelname mit der Zeit verschluckt) ist, noch nicht fünfzigjährig, einem Lungenleiden erlegen. Der kleine, gepflegte Mann sah aus wie der Letzte der … – also einer langen Ahnenreihe überzüchteter Sproß. Er kam von der Musik her, bevor er in den Bühnenkünsten dilettierte. Mit der mondänen Komödie Der Floh im Panzerhaus schuf er sich einen Namen als Autor und das Sprungbrett von München nach Berlin. Als Schauspieler hatte er kaum eine eigene Note; der müde, ironische Ton seines Spiels entsprach seiner Erscheinung und seiner Wesensart. Als Regisseur vermochte er seine Persönlichkeit stärker zur Geltung zu bringen. Er hatte das Sensorium für den Geist einer Komödie und wußte ihn den von ihm sich willig leiten lassenden Schauspielern mitzuteilen. Wenn Geschmack in der Kunst, wie die Knoten es wahrhaben wollen, eine Sünde ist, hat sich Forster Larrinaga ihrer schuldig gemacht. Bessere Europäer werden es ihm danken.“

Martin Zickel †. NZZ, 25. Juli 1932, Mittagausgabe, Nr. 1393.
Regisseur und Theaterdirektor (gest. 14.07.32). – „Schon als Student im germanischen Seminar bei Erich Schmidt regte er die Flügel, noch ehe er sich mit einer Dissertation über die szenarischen Bemerkungen im Zeitalter Gottscheds und Lessings den Doktorgrad erworben hatte. Was kein Theaterdirektor in Berlin um die Jahrhundertwende unternahm, das wagte der junge Dr. Zickel. Wie sich die fortschrittlichen Maler von ihren stehengebliebenen Kollegen durch Gründung der Sezession abgezweigt hatten, wollte Zickel dem stagnierenden Bühnenwesen durch Eröffnung der Sezessionsbühne (am Alexanderplatz) frisches Blut zuführen. Als erster hat er dort Maeterlinck, Schönherr, Knut Hamsun gespielt. Es bleibt ein nicht wegzuleugnendes Verdienst. Aber der Verdienst hielt mit dem literarischen Enthusiasmus nicht lange gleichen Schritt. Aus dem Vorkämpfer für esoterische Werke wurde bald ein Verschleißer gangbarer Publikumsware, als er das Lustspielhaus (in der südlichen Friedrichstraße) übernahm. Ein übler Prozeß bereitete seiner Direktionstätigkeit auf Jahre hinaus ein Ende. Als Zickel die Konzession wiederbekam, machte er der Menge noch in verstärktem Maße Konzessionen. Seine Hausgötter wurden Arnold und Bach; alljährlich, um die Weihnachtszeit herum, ‚stieg’ ihr neues Fabrikat, und der beliebte Lokalkomiker Guido Thielscher wurde die große Zugkraft des Hauses. Zickel, der alle ups and downs des Betriebs am eigenen Leib erfuhr, hat dann sein Heil noch an verschiedenen andern Theatern versucht. Mit mehr oder minder Glück. Er blieb ein illusionsloser, kühler Rechner. Auf seine ruhmreichen Anfänge blickte er fast wie auf eine Jugendsünde zurück. Stellte man ihn wegen dieses Gesinnungsumschwungs zur Rede, so zuckte er die Achseln und erwiderte, seinem Ehrgeiz genüge es, wenn er am Ersten jedes Monats sämtlichen Angestellten die Gage auszahlen könne. Auch das ist ein Standpunkt, so wenig er mit Kunst zu tun hat, und in der heutigen Zeit läßt sich nicht einmal viel dagegen sagen. Zuletzt, als es mit dem Theaterspielen in Berlin immer mehr bergab ging, wurde Zickel Produktionschef einer Lichtspielgesellschaft. Erst 56jährig, ist er einem Nierenleiden erlegen.“

Berliner Notizen. NZZ, 30. August 1932, Morgenausgabe, Nr. 1595.
Marcellus Schiffer, Chansontexter und Librettist (Selbstmord 24.08.32); Ida Hiedler, Sängerin (gest. 13.08.32). – „Marcellus Schiffer, der, erst vierzigjährig, durch die Überdosis eines Schlafmittels sein Leben beendete (war’s Unvorsichtigkeit, war’s Absicht: ganz geklärt ist der Fall nicht) – Marcellus Schiffer darf das Verdienst für sich in Anspruch nehmen, daß er die hirnlose Bein-Revue durch die gar nicht geistlose Klein Revue ersetzen wollte. Das ist ihm einmal restlos geglückt: in der Fleißigen Leserin. Auch Es liegt in der Luft war noch ein Treffer. In andern Werkchen dieser Gattung riß der rote Handlungsfaden zu rasch und zerfetzte in Kabarettnummern. Schiffer schrieb auch für Hindemith das Textbuch der lustigen Oper Neues vom Tage, der, infolge der Divergenz der beiden Künstler, ein breiter Erfolg versagt blieb [vgl. MMs Besprechung in der NZZ vom 12.06.29, Nr. 1134]. Im Gegensatz zu den ordinären ‚Schlagerdichtern’ verwandte Schiffer viel Sorgfalt auf die Sprache. In einem Hemdsärmel Milieu hielt er sozusagen auf gut gebügelten Rock. – Die Kammersängerin Ida Hiedler ist in Berlin gestorben. Grund genug für die Zeitungen, ihr ein halbes Dutzend Zeilen zu widmen. Und doch war sie einmal die Elsa, die Elisabeth, die Agathe des Kgl. Opernhauses. Nach ihrem Rücktritt von der Bühne wurde sie Gesanglehrerin. Aber da ihre vornehme Künstlernatur im stillen wirkte und es nicht für nötig hielt, sich durch eine tägliche Reklamenotiz bei den lieben Zeitgenossen in Erinnerung zu bringen, ist sie jetzt sang- und klanglos von der Weltbühne abgetreten. Sic transit …“

Theaternotizen. NZZ, 14. Oktober 1932, Mittagausgabe, Nr. 1901.
Arthur Kahane, Dramaturg des Deutschen Theaters Berlin und Schriftsteller (gest. 07.10.32). – „Arthur Kahane […] konnte noch im Mai seinen sechzigsten Geburtstag begehen, wurde dann von den neuen Herren des Deutschen Theaters, auf die Verfügung des früheren Herrn hin, übernommen, aber seine Liebe gehörte sicher mehr der Person als dem Hause. Wie der ihm im Tode vorausgegangene Felix Hollaender war Kahane von jeher ein fanatischer Reinhardt-Enthusiast. In den letzten Jahren seines Lebens ist er stärker als Schriftsteller hervorgetreten. Er fand seinen Stoff hauptsächlich im Reiche der Rampen, umrankte ihn reizvoll mit persönlichen Erinnerungen und hielt auf gepflegten, ja geschliffenen Stil. Die Urbanität seines Wesens fand hier ihren Widerhall. Zuletzt feierte Kahane als Historiograph die Schauspielerdynastie Thimig. Ein umfangreiches Werk von ihm war für die Geschichte des Deutschen Theaters unter Max Reinhardt geplant. Auch wenn sie unvollendet geblieben sein sollte, wird Arthur Kahanes Name stets mit dieser glanzvollen Ära verknüpft sein.“

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zuletzt aktualisiert: 18.06.19