Horst Schroeder

Buchbesprechungen aus der Zeit des Dritten Reiches

1936    
       

1936

Oscariana. NZZ, 2. Juli 1936, Morgenausgabe, Nr. 1143.
Vincent O’Sullivan, Aspects of Wilde. – „Vincent O’Sullivan, in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts durch seine Mitarbeit am Savoy, der esoterischen englischen Zeitschrift, bekannt geworden, bekannter dadurch, daß Aubrey Beardsley ein oder zwei Bücher von ihm für den makabren Verleger Leonard Smithers illustrierte, hat seine Erinnerungen an Oscar Wilde unter dem Titel Aspects of Wilde […] 36 Jahre nach dessen Tode zusammengestellt. Ursprünglich sollte es ein Beitrag zu einem Magazin werden; er erwies sich indes als zu lang, und so trug O’Sullivan aus seiner mnemotechnischen Vorratskammer immer mehr Material heran, bis es Buchumfang erreichte. Die Wilde-Aspekte umspannen den ganzen Smithers-Klüngel, vornehmlich Charles Conder und Ernest Dowson, und Smithers selbst in seiner Mischung von Mäzen und pornographischem Buchhändler ist zu einer unheimlichen Figur geworden. O’Sullivan hat kein Buch nach vorgefaßtem Plan geschrieben: gegen das Ende hin bröckeln seine Bausteine auseinander und lösen sich ohne den Mörtel zusammenhängender Darstellung in Anekdoten auf. Manche von ihnen sind uns schon durch Publikationen von anderer Seite her bekannt, viele haben den Reiz der Neuheit. Es muß freilich befremden, daß O’Sullivan die in Deutschland veröffentlichten Letzten Briefe Oscar Wildes nicht zu kennen scheint. – Auch das zuverlässigste Gedächtnis ist nicht imstande, über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten hinweg alle Einzelheiten getreu festzuhalten. Bald ist es Klette, bald ist es Sieb. Es gibt Eindrücke, die mit erstaunlicher Zähigkeit haften, und andern wiederum muß, wenn sie ausgegraben werden, von der Phantasie tüchtige Nachhilfe zuteil werden. Wo das Faktische verblaßt, fängt das Fabulieren an, und das hat die Eigentümlichkeit, sich wie ein rollender Schneeball zu vergrößern. Wir möchten gerne glauben, daß Vincent O’Sullivan nicht erst nach dreiundeinhalb Jahrzehnten aus dem Born seiner Erinnerungen zu schöpfen begonnen hat, sondern sich auf Tagebucheinträge, Notizen und dergleichen stützt, die unmittelbar post eventum fixiert worden sind. Das Buch gewänne dadurch in unserer Vorstellung entschieden an Authentizität. – Eins hat es unbestreitbar vor den bisherigen Biographien Oscar Wildes voraus: es ist weder von einem intimen Freund noch von einem intimen Feind verfaßt. Es setzt sich weder das Ziel, durch frommen Betrug Mohrenwäsche zu vollziehen, noch ist es ihm darum zu tun, die volle Brust, wie es im Macbeth heißt, des argen Stoffes zu entladen. Ein Unbefangener spricht. Er ist sich bewußt, daß er der Gesellschaft eines Genies teilhaftig wurde (Aubrey Beardsley gilt ihm als das größere), daß er mit einem echten, wenn auch nicht mit einem großen Dichter häufig zusammen war und daß ein talker allererster Ordnung (weder der deutsche Erzähler noch der französische raconteur deckt sich damit vollkommen) ihn seines Umgangs würdigte. Er hat ihm bei Lebzeiten nicht geschmeichelt, und das Porträt, das er so lange nach seinem Tode, nachdem er eine Weltberühmtheit geworden, von ihm entwirft, ist nicht allzu schmeichelhaft ausgefallen, weil es ehrlich bestrebt ist, ihm gerecht zu werden. – Doch besser als alle kritischen Worte können hier Stichproben einen Begriff von dem Buche O’Sullivans geben. […]“

Oscariana. II. NZZ, 9. Juli 1936, Abendausgabe, Nr. 1189.
Vincent O’Sullivan, Aspects of Wilde (Ergänzung). – „Zuschriften aus dem Leserkreis scheinen darauf schließen zu lassen, daß die vor kurzem hier veröffentlichten, dem Buche Wilde-Aspekte von Vincent O’Sullivan entnommenen Anekdoten in ihrer Mischung von Scherz, Satire, Ironie und tieferer Bedeutung Anklang gefunden haben. Eine kleine Nachlese, die freilich auch tragischen Aspekten nicht ausweicht, mag den Appetit der Leser stillen. […]“

Ein Shaw-Kompendium. NZZ, 15. Oktober 1936, Morgenausgabe, Nr. 1771.
Xavier Heydet, Shaw-Kompendium: Verzeichnis und Analyse seiner Werke, Shaw-Bibliographie, Verzeichnis der Literatur über Shaw, Verzeichnis der Aufführungen seiner Werke in England und Deutschland. – „Xavier Heydet vom Lycée in Mulhouse hat (Verlag Henri Didier, Paris) ein mehr als 200 Seiten starkes Shaw-Kompendium erscheinen lassen, das eine bis zur Gegenwart reichende, erschöpfende Bibliographie enthält und ein Verzeichnis der in Deutschland veröffentlichten Artikel über und von Shaw. Indem es sich vornehmlich an die Universitätsbibliotheken und englischen Seminare wendet, betont es seinen ausgesprochen wissenschaftlichen Charakter. Das Bestreben nach möglichster Objektivität hat den Verfasser dazu geführt, vielleicht weniger kritisch zu sein, als unbedingt nötig war; denn die Grundsätze, nach denen er seine Auswahl getroffen hat, werden nicht recht ersichtlich. Er hat wohl häufiger den Zufall spielen lassen, als daß der Wert einer Arbeit entscheidend gewesen wäre. Diese ‚Vielgestaltigkeit’ oder Mannigfaltigkeit der Urteile bringt es mit sich, daß Literatur und Makulatur in einen Topf geworfen werden. Aber jeder, der sich ernsthaft mit Bernard Shaw beschäftigt oder gar über ihn schreiben will, wird Heydets ‚Schiffskatalog’ mit Vorteil benutzen.“

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zuletzt aktualisiert: 18.06.19

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