Aufsätze aus der Zeit des Kaiserreichs
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1901
English Spoken. Eine Sprachplauderei. VZ, 18. August 1901, Nr. 385.
„Die Deutschen sind das
sprachkundigste Volk. Das ist eines jener Urteile, die sich schwer nachprüfen,
schwerer beweisen und noch schwerer umstoßen lassen. Wenn man sagt: »Die Franzosen
haben dem Theater die meisten brauchbaren Stücke geliefert«, oder: »Die
Deutschen haben in der Musik die größten Meister hervorgebracht«, so läßt sich
diese Behauptung zur apodiktischen Gültigkeit erheben: es genügt, ein Dutzend
Namen zu nennen. Dagegen behält der erste Satz in seiner schrankenlosen
Allgemeinheit immer etwas Hyperbelhaftes, Ungreifbares, in der Luft Schwebendes
und darum Unbeweisbares.
Es bleibe dahingestellt, ob wir uns
selbst für das sprachkundigste Volk halten oder von anderen dafür gehalten
werden. Letzteres ist wahrscheinlicher. Wie wir uns ja auch erst als Volk der
Dichter und Denker fühlten, nachdem uns Lord Bulwer [Edwin Bulwer-Lytton
(1803-1873)] offiziell in der Vorrede zu Ern[e]st Maltravers [1837] diesen Ehrentitel
beigelegt hatte [»To the Great German People, A Nation of Thinkers and of
Critics«]. Indessen haben wir keine Veranlassung, die Quelle unseres Ruhms
aufgedeckt zu sehen; seien wir zufrieden und froh, daß wir bei anderen in so
gutem Rufe stehen, und trachten wir, ihn in Zukunft zu erhalten.
Wo Rauch ist, muß irgendwo Feuer
sein, schließt das Sprichwort nicht mit Unrecht. Nun ja: wir lernen wirklich
Sprachen. Schon auf der Schule werden uns von den lebenden Sprachen zwei
beigebracht; zuerst das Französische, dann das Englische. (Die Reihenfolge mag
sich daraus erklären, daß das Französische in seinem Wortbestand und seiner
logischen Durchbildung eine größere Ähnlichkeit mit dem Lateinischen besitzt;
sonst müßte, seiner allgemein zugegebenen oder angenommenen Leichtigkeit wegen,
das Englische eigentlich an erster Stelle erscheinen.) In anderen Ländern haben
die Schüler meist die Auswahl zwischen zwei Sprachen, etwa wie auf unseren
Gymnasien den Primanern die Entscheidung zwischen dem Englischen und
Hebräischen freisteht. Wer aber bei uns etwas auf sich hält, eignet sich noch
das Italienische an. Nicht etwa, um Dante im Original zu lesen; denn die Zeiten
sind vorbei, da man aus Begeisterung für einen Dichter sich sogleich auf dessen
Muttersprache stürzte. Goethe riet seinem Eckermann dringend, das Englische zu
erlernen, »besonders des Lord Byron wegen« [Eckermann, 19.10.1823]; hat einer
unserer Bildungsbeflissenen etwa das Norwegische gelernt, besonders des Henrik
Ibsen wegen? Heutzutage werden nicht nur poetische Großtaten, sondern auch
Bücher von ephemerer »Aktualität« – um ein Zeitungsschlagwort zu gebrauchen –
sofort in mehreren Kultursprachen auf den Markt gebracht, und eifrige
Dolmetsche sind unablässig bemüht, ihr Scherflein zur Verwirklichung einer
Weltliteratur beizutragen. Ihre die Sprachkenntnis fördernde Rolle hat die
Poesie ausgespielt. Merkantile Interessen stehen im Vordergrund. Der Welthandel
ist ein mächtiger Sprachvermittler und -Förderer geworden. Wer sich also
nachträglich das Italienische erwirbt, tut es meistens aus einem praktischen
Bedürfnis heraus: entweder steht er in Geschäftsverbindung mit Italien,
empfängt Briefe von dort und hat Briefe dorthin zu richten, oder aber er möchte
sich in dem Wunderland verständlich machen, wenn er einstens seine Hochzeitsreise
dorthin unternehmen sollte.
Wir lernen Sprachen. Und bis vor
kurzem geschah es in der Art, daß das Auge eher herangezogen und geübt wurde
als das Ohr, daß man die Methode der Erlernung toter Sprachen stracks auf die
lebenden übertrug. Erst mußten wir die Verba, die mit avoir und être verbunden
werden, im Kopfe haben, ehe wir erfuhren, welches Wort der Franzose für
»Taschentuch« gebraucht. Erst lernten wir den sächsischen Genitiv anwenden, ehe
wir wußten, wieviel eine Guinea ist. Erst lasen wir die Geschichte
Karls XII. [L’Histoire de Charles
XII (1731)] von Voltaire und die Erzählungen eines Großvaters von Walter
Scott [Tales of a Grandfather
(1828-30)] im Original, ehe wir in einer der beiden Sprachen sagen konnten:
»Der Zug geht um ¾7.« Und am wenigsten wären wir imstande gewesen, einen
Eingeborenen zu verstehen. Daß man mit dieser grammatischen Meisterschaft
keinen Hund hinter dem Ofen hervorlockt, ist verhältnismäßig spät eingesehen
worden. Mancher deutsche Student mußte am eigenen Leibe erfahren, wie wenig es
ihm von Nutzen war, daß er den großen Ploetz
[Standard-Nachschlagewerk zur Geschiche, begründet 1863] und den Immanuel
Schmidt [(1823-1900),Verfasser zahlreicher Lehrbücher zur englischen Sprache]
in den Fingerspitzen hatte, wenn er sich in Paris oder London eine Krawatte
kaufen wollte. Jener Seminardirektor, der seinen Kandidaten empfahl, im Ausland
recht oft mit einem kleinen Mädchen spazieren zu gehen, wußte offenbar sehr
wohl, wie schnell sich Don Juan und Haidee verständigen [Anspielung auf Byrons
satirisches Versepos Don Juan (1819-24)]
...
Was wichtiger ist: wir treiben
Sprachen. Die Deutschen sind das spracheifrigste Volk; in dem Sinne, daß wir
unsere Kenntnisse am meisten zu verwerten, an den Mann zu bringen suchen. Es ist bezeichnend, daß
ein deutscher Professor seinen Hörern den freundlichen Rat erteilen darf, die
Deutschen im Ausland »wie die Pest« zu fliehen; ich glaube, ein Engländer würde
nie etwas derartiges auszusprechen wagen, weil er mit einer Empörung des
Jingoismus zu rechnen hat.
Wenn der Deutsche nach England geht,
hält er es für seine Pflicht, die Sprache des Landes zu kennen; wenn der
Engländer nach Deutschland geht, weiß er oft nicht mehr als die paar
Schlagworte, die in seinen Witzblättern zur Charakterisierung des Deutschtums
beliebt sind, etwa: »Hurrah! ach Gott! nicht wahr? Sauerkraut«. Aber er macht
aus seiner Unkenntnis kein Hehl. Schickt ein deutscher Kaufmann seinen Sohn
nach London, damit er die Sprache erlerne, so wird dieser seinen ganzen Ehrgeiz
aufbieten, um das Ziel zu erreichen; er wird hauptsächlich mit Eingeborenen
verkehren, seinen Landsleuten aus dem Wege zu gehen bemüht sein, fleißig die
Theater und die Music-halls besuchen
und leider häufig wie der [Ludvig] Holberg’sche Lustspielheld [in Jean de France (1722)] als Nachäffling fremder Sitten und
Gebräuche heimkehren. Er wird für die englische Tageseinteilung schwärmen und
seinem Plastron [breite Krawatte] die kunstreichsten Formen abzugewinnen
wissen, während er früher genähte Schleifen trug. Schickt dagegen ein Engländer
seinen Sohn ins Ausland, so wird dieser nichts Eiligeres zu tun haben, als
einem englischen Klub beizutreten, den englischen Gottesdienst zu besuchen
u. dgl. Er wird seine Hosen auch weiterhin umgekrempelt tragen und seine
kurze Pfeife mit dem süßlich parfümierten Tabak rauchen. Der Deutsche
unterwirft sich fremdem Wesen, der Engländer unterwirft sich fremdes Wesen.
Schon Goethe sagte, ohne zu beschönigen: »Es liegt in der deutschen Natur,
alles Ausländische in seiner Art zu würdigen und sich fremder Eigentümlichkeit
zu bequemen« [Eckermann, 10.01.1825]. Der Deutsche ist nicht so blind, daß er
nicht das Bessere bei anderen Völkern sähe; er ist daheim ein Patriot und neigt
draußen leicht zum Zweifel. Der
Engländer ist zu conceited, um das
Bessere bei anderen Völkern zu sehen, der Glaube an die eigene Vollkommenheit
ist ihm zu sehr eingeimpft; so wird er, der daheim mehr als bekannt zum Zweifel
neigt, draußen seinen Patriotismus kräftigen und festigen.
Die Erklärung dafür, daß der Engländer
so ganz »unvorbereitet« zu uns herüberkommt, liegt auf der Hand: wir machen es
anderen Völkern außerordentlich bequem, indem wir sie in ihrer Muttersprache
anreden. Es ist eine gewisse Höflichkeit, die des Wirts gegen seine Gäste. Vor
kurzem beklagte sich einmal ein junger Angelsachse bei mir, er habe überhaupt
kaum Gelegenheit, Deutsch zu sprechen, weil ihn alle seine Bekannten mit dem
Englischen überfielen. Der Stolz Minna von Barnhelms, die auf Riccauts Frage:
»Sie spreck nit Französisch, Ihro Gnad?« rund heraus erwidert: »Mein Herr, in
Frankreich würde ich es zu sprechen suchen. Aber warum hier?«, dieser Stolz
scheint uns abhanden gekommen zu sein. Nie würde ein Engländer, der einen
Deutschen empfängt, die Gastfreundschaft bis zu dem Punkte treiben, daß er
Deutsch radebrechen würde. Bei uns prangt an jedem sog. besseren Geschäft eine
Aufschrift, daß Ausländer in ihrer Sprache bedient werden. In London erniedrigt
sich höchstens ein Barbierladen dazu, die Deutschen in ihrer Muttersprache zum
Rasieren einzuladen; in Bond- oder Regent-Street dürfte es schwer fallen, ein
Geschäft zu finden, das deutsche Kunden anzulocken bestrebt wäre. Es
widerstreitet englischem Gefühl. Bei uns gehört die Polyglottie nicht nur zu
einem einigermaßen großstädtischen Geschäft; auch Bayreuth und München, wo die
deutsche Kunst eine Heimstätte hat, verschmähen es nicht, die Reklame in
englischer Sprache abzufassen. Das ist wirklich unwürdig, und Carl Krebs [Dozent
für Musikgeschichte an der Musikhochschule Berlin und Musikkritiker
verschiedener Berliner Tageszeitungen (1857-1937)] durfte jüngst mit Recht
ausrufen: »O Ihr Deutschen, wann werdet Ihr endlich aufhören, ein Volk von
Friseuren zu sein?« [vermutlich in einem Zeitungsartikel].
Es ließe sich wohl zur
Entschuldigung anführen, daß Deutschland am spätesten die Weltbühne betreten
hat. Das Französische war die Hofsprache, ist noch die internationale
Diplomatensprache. Die Engländer eroberten ihrer Sprache durch die
überseeischen Kolonien ferne Erdteile. Heute hat jedoch das Deutsche wahrlich
mehr als den Wert von Scheidemünzen; und was unser Handel erreicht hat, sollten
wir unserer Sprache nicht mit Gewalt verwehren. Jacob Grimm stimmte in seiner
köstlichen Abhandlung Über den Ursprung
der Sprache [1851] den Preis des Englischen mit der Begeisterung an, mit
der Tannhäuser das Lob der Venus singt: »Keine unter allen neueren Sprachen hat
gerade durch das Aufgeben und Zerrütten aller Lautgesetze, durch den Wegfall
beinahe sämtlicher Flexionen eine größere Kraft und Stärke empfangen als die
englische, und von ihrer nicht einmal lehrbaren, nur lernbaren Fülle freier
Mitteltöne ist eine wesentliche Gewalt des Ausdrucks abhängig geworden, wie sie
vielleicht noch nie einer anderen menschlichen Zunge zu Gebote stand ... Ja,
die englische Sprache, von der nicht umsonst auch der größte und überlegenste
Dichter der neuen Zeit im Gegensatze zur klassischen alten Poesie, ich kann
natürlich nur Shakespeare meinen, gezeugt und getragen worden ist, sie darf mit
vollem Recht eine Weltsprache heißen und scheint gleich dem englischen Volke
ausersehen, künftig in noch höherem Maße an allen Enden der Erde zu walten.
Denn an Reichtum, Vernunft und gedrängter Fuge läßt sich keine aller noch
lebenden Sprachen ihr an die Seite setzen, auch unsere deutsche nicht, die
zerrissen ist wie wir selbst zerrissen sind, und erst manche Gebrechen von sich
abschütteln müßte, ehe sie kühn mit in die Laufbahn träte« [S. 50]. Wie
ein schwacher Protest klingt dagegen, was Friedrich Vischer [1807-87] in seinem
wundervollen Roman Auch Einer [1879],
der »erfrischend wie Gewitter goldne Rücksichtslosigkeiten« birgt [Theodor
Storm, »Für meine Söhne«], über das Englische zum Besten gibt: »Verwünschte
Sprache. Ein Gott hat sie im Lachkrampf erfunden und gesagt: eine Sprache soll
sein, die sei zweckmäßig kurz und doch reich, dadurch fast zur Weltsprache
geeignet, aber im Klang so, als brächte man zum Spaß unanständige Töne hervor
... In der lächerlichsten aller Kultursprachen hat Shakespeare geschrieben«
[Kap. 19].
Wie verhält es sich nun mit der
Kenntnis, die der Deutsche gemeinhin von dieser »lächerlichsten aller
Kultursprachen« besitzt?
Das Englische genießt die
Auszeichnung, von den meisten Menschen trotz der schwersten Aussprache für die
leichteste europäische Sprache gehalten zu werden. Das Vorurteil entstand auf
sehr einfache Weise: the dog heißt
der Hund, the duck heißt die Ente, the horse heißt das Pferd. Ein
Geschlecht! Eine Deklination oder eigentlich nur noch sehr spärliche
Überbleibsel einer Deklination, ja fast keine mehr, denn die einzelnen Casus
werden durch Vorsetzung von Präpositionen (of,
to), nicht durch Abwandlung des Stamms (den
Männern) gebildet. Eine Konjugation oder eigentlich nur noch sehr spärliche
Überbleibsel einer Konjugation, denn nur die dritte Person in der Einzahl
erhält ein Suffix. Die lästige Unterscheidung zwischen der zweiten Person in
der Einzahl und Mehrzahl, die nur eine Scheinmehrzahl bedeutet, ist weggefallen
u. dergl. Diese höchste Vereinfachung des Formenkrams, die sich vom Angelsächsischen,
dem kompliziertesten aller germanischen Dialekte (hat doch schon der erste Vers
des Beowulf manchen Neuphilologen die
Flinte ins Korn werfen lassen!), bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts
vollzogen hat, erregt den Jubel des Schülers, der mit der Erlernung des
Englischen beginnt. Wenn nur die verflixte Aussprache nicht wäre! In ein paar
Stunden ließe sich das andere machen. Der Herrgott muß in einer besonders
gnädigen Laune dieses Englisch erschaffen haben als den Triumph der
Bequemlichkeit. Freilich die Rose hat ihre Dornen. Die Aussprache, diese[r]
niederträchtige jawbreaker, stellt
nicht nur an den Anfänger ganz erhebliche Anforderungen. Die süddeutsche Zunge
mit ihrer lässigen Behandlung der Konsonanten kämpft vergeblich gegen die
Schwierigkeiten an, und auch die Sachsen dürften ihrer kaum Herr werden. Denn
bekanntlich gibt es im Englischen einige Laute, auf die unsere Sprachwerkzeuge
schlechterdings nicht geeicht sind. Es bedarf einer besonderen Stellung des
Unterkiefers, einer veränderten Lage der Zunge, um sie hervorzubringen.
Trotzdem trifft man hie und da einen Deutschen, der nach langen, mühsamen
Anstrengungen diese Hindernisse überwindet. Schließlich bereitet das Deutsche
dem Engländer in dieser Hinsicht keine geringeren Schwierigkeiten.
Die gute Aussprache ist natürlich
die Grundlage und conditio sine qua non einer
richtigen Erlernung und völligen Beherrschung der Sprache. Darunter verstehe
ich allerdings etwas anderes als das, was in Heiratsannoncen als »spricht
perfekt Englisch und Französisch« herumwimmelt, oder das, was der gebildete
Oberkellner, der doch nur the lingo of
the trade beherrscht, wissen muß. Es genügt nämlich nicht, einen Satz
grammatisch richtig zu bauen und lautlich richtig von sich zu geben, ihn also
innerlich und äußerlich tadellos hinzustellen, sondern er muß auch Kitt,
Mörtel, Schwebung, Musik haben. Jede Sprache verfügt über eine eigene
Sprachmelodie. Sie bildet einen Teil ihres individuellen Gepräges. Es ist der
Kranz, der an die Wetterfahne des fertigen Gebäudes gehängt wird. Obwohl wir
das musikalischste Volk der Erde sind, scheint es, als ob unser Ohr für diese
Musik ohne Noten, für diese gesprochene Musik nicht recht geschärft sei. Sie
hat so gut wie ihre tönereichere Halbschwester ein Fünfliniensystem. Die deutsche
Frage: »Möchten Sie eine Tasse Tee?« und die englische: »Do you want a cup of
tea?« sind verschieden wie ein Mozart’sches Menuett und eine Chopin’sche
Mazurka. Dort ein ruhiges Auf- und Abschweben mit einer höheren Schlußnote,
hier ein aufgeregtes Accelerando mit schriller Fermate fast in Triolenbewegung.
Die Frage und der rhetorische Ausruf umspannen die größten Intervalle, aber
jeder Satz hat eine immanente Melodie. Man muß die Akzente heraushören, man muß
merken, wo sie im Gegensatz zum Deutschen fehlen. Nur wer seinen Worten diesen
letzten musikalischen Schliff zu geben vermag, darf sich rühmen, eine Sprache
perfekt zu sprechen. Auffallenderweise will uns die englische Sprachmelodie
nicht recht in Fleisch und Blut übergehen, während uns das Französische viel
leichter ins Ohr fällt. Darum verraten die Deutschen in England so schnell ihre
Abstammung, und man begegnet nur äußerst selten einem Landsmann, der hinter
dieses Geheimnis gekommen ist. Gewöhnlich belehrt uns schon die erste Frage des
Barbiergehilfen: »Shave, please?«, wes Landes Kind er ist.
Alle Spracherlernung beruht auf der
Nachahmung. Der Papagei und das Baby sind dafür sprechende Beweise. Der
Erwachsene, dem diese Fähigkeit eingerostet ist, arbeitet mehr mit dem Gehirn.
Aber die Sprachmelodie kann, nicht anders wie der Wolter-Schrei [die
ausdrucksstarke Sprechlage der deutsch-österreichischen Schauspielerin
Charlotte Wolter (1834-1897)], nur durch Nachahmung erworben werden. Meinem
Gefühl nach unterscheidet sich das Amerikanische von der Muttersprache nicht so
sehr durch Wortbedeutung und Aussprache wie durch den Satzakzent. Mrs. Patrick
Campbell [berühmte englische Schauspielerin (1865-1940)] und eine Tochter des
wilden Westens würden den Anfang des Keats’schen Endymion [1818]: »A thing of beauty is a joy for ever« ebenso
verschieden sprechen, wie wenn ein Cello und eine Oboe ein Thema zu bringen
hätten.
Vielleicht hat es sein Gutes, daß
die wenigsten über diesen letzten Berg hinüber gelangen. Die Selbstentäußerung
kann nicht bis zu dem Grade getrieben werden, daß die Nationalität erstickt
wird. Und so behält zum Schluß der Satz Recht, der behauptet, man könne nur
seine Muttersprache erlernen.“
In leicht überarbeiteter Form wieder
abgedruckt in dem gleichnamigen Kapitel Von
Sprach’ und Art der Deutschen und Engländer (S. 9-33). Vgl. Sektion
„Selbständige Veröffentlichungen“ (1903).
Evelyn Innes und ihr
Dichter. Die Zeit, Bd. 28, Nr.
360, 24. August 1901, 119-121.
Essay über George Moore im
allgemeinen und über die Protagonistin von Evelyn
Innes [1898] und Sister Teresa [1901]
im besonderen. (Nicht in Langenfeld). ● „ [...] Eine bekannte deutsche
Schriftstellerin [nicht identifiziert] hatte vor drei Jahren über den Roman Evelyn Innes des Irländers George Moore das harte Urteil abgegeben, er biete
»endlos langweilige Kapitel«. Der drakonische Spruch schien nicht geeignet, dem
Dichter im Ausland neue Freunde zu erwerben. Und doch wären ihm umso mehr zu
wünschen, da er daheim von den Fanatikern mit scharfen Waffen bekämpft, von den
Gleichgültigeren mit geringschätzigem Lächeln abgetan wird.
Zweierlei hat ihm diese exponierte
Stellung verschafft. Er vergaß, wollte vielleicht ein wenig die Grenzen
vergessen, die im Vaterlande Byron’s und Shelley’s jedem Talent gesteckt sind.
Er brachte von Frankreich, das seine Kunstanschauungen siebte und läuterte, ihn
zu einem seltenen Theoretiker machte, wie sein Essayband Impressions and Opinions [1891] bezeugt, einen krassen Realismus
mit, der gelegentlich nicht vor Gewalttätigkeiten, ja auch Geschmacklosigkeiten
zurückschreckte. Er hatte den Mut, mit diesem Realismus zu protzen und zu
trotzen. Die tiefernste, von wahrer Sittlichkeit erfüllte Grundidee seines
Dienstbotenromans Esther Waters
[1894] konnte infolge dessen gröblich verkannt werden und bot den willkommenen
Anlaß, ihn in Acht und Bann zu erklären. George Moore wurde von den
Moralwächtern und -Pächtern an den Pranger gestellt. Von nun an schien er sich
in den Dienst einer anderen Sache stellen zu wollen. Eine neue Lebensaufgabe
lockte ihn: Irland, diesem englischen Stiefkind, [...] will er die Kunst und
die Kultur bringen. Zu diesem Zwecke verband er sich mit zwei gleichgesinnten
Genossen, mit dem Dramatiker Mr. [Edward] Martyn und dem Lyriker Mr.
[William Butler] Yeats, und gründete das irische literarische Theater, um
endlich der zum Handwerk herabgesunkenen Bühnenkunst, die in London von des
Pöbels Gnaden lebt, in Dublin eine würdige Stätte zu bereiten. [...] Er selbst
trat in der Vorrede zu der Komödie The
Bending of the Bough [1900] als Programmatiker auf und schoß den ersten
Pfeil ab. [...]
George Moore hat sich einer Tendenz
mit Herz und Hand, mit Haut und Haaren verschrieben. So sehr sie seine
vaterländischen Gefühle ehrt, so müßte es doch im Interesse der Kunst bedauert
werden, wenn seine Werke fortan sub
specie missionis betrachtet werden müßten. Ich möchte lieber sagen: George
Moore hat sich in eine Tendenz verrannt. Vom menschlichen Standpunkt müssen wir
sie billigen; dem Künstler kann sie jedoch schädlich werden, ist sie bereits
gefährlich geworden.
Denn ihre Spuren lassen sich bis in
sein jüngstes Buch [Sister Teresa]
hinein verfolgen. [...] Würden wir statt des Titelblattes auch einmal das
„Fly-leaf“ überfliegen, so hätten wir schon vor drei Jahren, als Evelyn Innes die Werkstatt ihres Dichters
verließ, mühelos erraten können, daß ihr einstens eine Sister Teresa folgen werde. [...] Die letzten Seiten des Romans
hatten uns an die Schwelle des Klosters und zu vorübergehendem Besuch in das
Kloster selbst geführt. [...] Hier wollte die gefeierte Sängerin im Umgang mit
der gütigen Priorin und den frommen, „geschlechtslosen“ Nonnen von den Irrungen
und Wirrungen der Liebe genesen. Hier gewann sie einen tiefen Einblick in die
Schriften der heiligen Teresa. [...] Damit war die Romantik eines bewegten
Künstlerlebens in die Sackgasse der Mystik eingebogen. Der Musik war früher der
Sieg über die Jungfrau leicht geworden; der Religion sollte der Sieg über die
Kunst schwerer werden. So schloß das Ganze wenig vertrauenerweckend mit einem
Vielleicht, mit einem Fragezeichen, hinter das der Kritiker notgedrungen auch
das seinige setzte. Zu diesem Fragezeichen mußte George Moore im zweiten Bande
Stellung nehmen.
Er hätte sich und uns Bedenken
ersparen können, wenn er die beiden Teile nicht getrennt und durch den Titel
unterschieden hätte. Den begangenen Fehler verspricht er aber durch eine
Schlußredaktion, die das Ganze unter dem einen Titel Evelyn Innes zusammenfaßt, wieder gut zu machen. Gleichzeitig hat
der erste Band, der jetzt nach englischer Sitte als Volksausgabe [popular edition] erschienen ist [...],
eine völlige Umarbeitung erfahren; eine so völlige, daß der Verfasser meint,
nie sei ein Werk so von Grund auf umgeschrieben worden. Er sucht das Verfahren
zu rechtfertigen, indem er auf das Beispiel von Shakespeare, Balzac, Goethe,
Wagner, Fitzgerald und unter den Lebenden auf Meredith und Yeats verweist. Er
hätte auch Gottfried Kellers Grünen
Heinrich anziehen können. Gleichwohl ist er von einer gewissen Willkür
nicht freizusprechen. Kunstwerke sollen ausreifen. Sie stehen nicht mit der
ersten besten populärwissenschaftlichen Abhandlung, die regelmäßig als zweite
verbesserte Auflage angekündigt wird, auf einer Stufe. Quod scriptum est, scriptum est: das sollte für den Künstler Norm
sein.
In diesem besonderen Falle ist
jedoch die Umarbeitung, sofern sie einer Zusammenstreichung gleichkommt, zu
entschuldigen, ja freudig zu begrüßen. Denn das Nebenwerk literarhistorischer
Exkurse oder musiktheoretischer Ausführungen über den Geist der Wagnerschen
Musik, so viel Vortreffliches darin niedergelegt ist, hängte sich wie ein
Bleigewicht an die Handlung. [...]
Nur an einer Stelle ist ein
einschneidender Zusatz erfolgt: Evelyn wirft sich jetzt nicht mehr ihrem
zweiten Liebhaber, Ulick Dean, während des Zwischenakts der Tristan-Aufführung in ihrer Garderobe
begeisterungstrunken an den Hals, sondern sie unternehmen gemeinschaftlich
einen Ausflug nach Irland. Die historische Stätte Chapelizod, an der Isolde
gewandelt, ist das Ziel ihrer Wallfahrt. Aus der Lokalbesichtigung hofft Evelyn
Anregung zu gewinnen. [...] Im Grunde ist die irische Reise, der drei volle
Kapitel gegönnt sind, nur ein Vorwand, um des Dichters Heimat nach Gebühr zu
preisen, ein Mittel zum Zweck, ein recht plumpes sogar, das durch seine
Absichtlichkeit verstimmt, um am unrichtigen Orte Propaganda zu machen. Hier
ergreift der Programmatiker aus der Vorrede zu The Bending of the Bough das Wort. Dieselben Gedanken, ja dieselbe
Fassung der Gedanken. Nebenher wird Yeats’sche Poesie ein wenig in rhythmische
Prosa aufgelöst. So ertönt in Evelyn
Innes nachträglich ein wuchtiger Akkord ad
maiorem patriae gloriam.
Ad maiorem Dei gloriam wird das Leitmotiv für Sister Teresa; mehr noch als Leitmotiv: das A und das O des Romans.
Wollte man schon aus Evelyn Innes die Auseinandersetzung des
Verfassers mit der katholischen Kirche, seinen Standpunkt zur Beichte
herauslesen, so ist Sister Teresa
eine große Paraphrase über dieses Thema, die in der Selbstverleugnung gipfelt.
Alle Stadien dieses Verwandlungsprozesses werden mit anatomischer Sorgfalt
bloßgelegt. Auch hier überwuchert wieder die Fülle der Einzelzüge die winzig
zusammengeschrumpfte Handlung. Von Geschehnissen im landläufigen Sinne kann
kaum noch die Rede sein; an ihre Stelle tritt die innere Aktion, die eine Frauenseele
schaukelt, erschüttert, durchwühlt, umstülpt. [...] An Seel’ und Leib verwundet
und zerschlagen, war Evelyn hinter jene Mauern geflüchtet, die das Weltenweh
nicht eindringen ließen. [...] Evelyn Innes ist ausgetilgt. Sie empfängt den
Namen Teresa, der von ihr bewunderten Heiligen. [...] Ihr Fazit lautet nicht
anders als das wehmütige Bekenntnis Sue Bridehead’s (in Thomas Hardy’s Jude): »Unser Leben war ein vergebliches
Streben nach Selbstergötzen. Aber Selbstverleugnung ist das Höhere.« Selbstergötzen
in Evelyn Innes; Selbstverleugnung in
Sister Teresa.
Das Buch dieser Frauenseele wird
hier zugeklappt. Bis in ihre geheimsten Regungen und feinsten Schwingungen
haben wir sie begleitet. Wir besitzen wenig so ins Kleinste ausgeführte
Darstellungen in der modernen Literatur. Ein ganzer Band ist nötig, um die
einzelnen Etappen einer geistigen Metamorphose aufzuzeichnen. Denn im Grunde
waren wir am Ende des ersten Bandes bereits an derselben Stelle angelangt.
[...] Ihr Charakterbild erhält keine Bereicherung, nur eine Vertiefung. Und wir
rücken nicht recht vom Fleck. George Moore bewegt sich in einer Kreislinie. Er
kehrt zum Ausgangspunkt der Entwicklung zurück – ein Verfahren, das er mit
Vorliebe, am auffallendsten in den Celibates
[1895], wählt und das er in Esther Waters
[nein, in Celibates] dahin
formuliert: »Everything comes back to the same point in the end.«
[Kap. 22] So ist das Leben.
Evelyn selbst ist aber vielleicht zu
sehr nach dem Abbild des Lebens geformt. An poetischen Charakteren besticht nur
ihre Folgerichtigkeit; die Konsequenz ist die Grundbedingung ihrer Schönheit.
Evelyns tragisches Geschick ruht in ihrer mangelnden Fähigkeit, sich
aufzuraffen. Sie ist ein Mosaik schwankender Entschlüsse, ihre Unstetigkeit das
hervorragendste Merkmal ihres Wesens. [...] Das Leben schafft und duldet solche
Menschen; in der Literatur können wir ihnen nicht die höchste Staffel der
Vollendung zuschreiben, ob sie nun Evelyn Innes oder Sue Bridehead oder – Georg
v. Hartwig [in Sudermann’s Johannisfeuer
(1900)] heißen. Esther Waters kennt diese Unbeständigkeit nicht; mit der
Zähigkeit der angelsächsischen Rasse schreitet sie aufrecht und unbeirrt auf
ihrem Dornenpfade dahin.
George Moore’s Meisterhand bewährt
sich wieder in der Zeichnung des Milieus und in der Sprache. Die Klosterluft
umfängt uns mit ihrer ganzen Reinheit und Milde. Ohne nach der einen oder
anderen Seite in Tendenz zu verfallen, [...] läßt Moore eine herbstliche
Schönheit sein Gemälde umspielen. [...] Und zum Glück hält sich das Ganze von
bengalischer Beleuchtung des Glaubens fern. Hier könnten Mrs. Humphrey
Ward, die Verfasserin des Helbeck of
Bannisdale, und John Oliver Hobbes, die Verfasserin des Robert Orange, mit Erfolg in die Schule
gehen.
Als die vornehmste Würze betrachten
wir endlich die Sprachbehandlung. George Moore hat Stil. Darin ist er unseren
Romanschreibern größtenteils überlegen. Vielleicht übertreibt er hie und da die
Art, wie er seine Sätze pointiert. Die Grammatik nimmt er auf die leichte
Schulter. Unbekümmert um die strenge Wortfolge, schwelgt er in rhetorischer
Prosa. Keine Seite, die sich nicht durch irgend eine neuartige Fassung
auszeichnete. Seine Sentenzen sind nicht silberne Tafelaufsätze am falschen
Orte, sondern sprießen aus der Darstellung hervor. Und die Fülle und der Reiz
seiner Gleichnisse sind bewundernswert und überraschend.
Wer auch nur einmal die
Bekanntschaft dieses Dichters gemacht hat, wird die Zeitungsmär, in England
habe die Literatur keine Heimstätte mehr, als Verleumdung betrachten müssen.
Als ob nicht außerdem Charles Swinburne und George Meredith und Thomas Hardy
gewirkt hätten und wirkten!“ ● Vgl. Meyerfelds Essay ‚George Moore‘ im LE vom 01.10.01 (s.u.).
„I.“
Ein Beitrag zum Nationalegoismus der Engländer. VZ, Nr. 429, 13. September 1901.
Über die Schreibweise des englischen
Personalpronomens der 1. Pers. Singular. (In leicht überarbeiteter Form
wieder abgedruckt in Von Sprach’ und Art
der Deutschen und Engländer.) Siehe „Selbständige Veröffentlichungen“.
George
Moore. LE, Bd. 4,
Nr. 1 (1. Oktober 1901), 7-14.
Essay in der Zeitschrifts-Rubrik „Charakteristiken“,
illustriert mit einem Porträt Moore’s. ● „ [...] George Moore nimmt unter
den zeitgenössischen Vertretern des englischen Romans eine ganz besondere
Stellung ein. Er ist mehr eine Literatenberühmtheit als eine literarische
Berühmtheit. Er wird im Ausland höher geschätzt als von den zünftigen Beurteilern
der englischen Poesie. Diese behandeln ihn ein wenig als enfant terrible, zucken die Achseln und lächeln verlegen oder
überlegen, sobald die Rede auf ihn kommt. Daneben hat er wohl eine treue
Gemeinde, Bundesgenossen, Schüler, die mit ihm durch Dick und Dünn gehen. Nur
einmal ist ihm das große Publikum zugeströmt: als seine tiefsittliche Esther Waters der Bannfluch der
Leihbibliotheken traf. Er ist zu literarisch, um populär sein zu können; er ist
zu bewußt Schriftsteller und Kunsttheoretiker, um sich einmal aller Fesseln
ledig zu fühlen und der Menge zu schmeicheln. Es wird ihm nachgesagt, er errege
mehr Aufsehen, als daß er Ansehen genieße. Während er in Deutschland an Ernst
Heilborn [1867-1942] einen begeisterten Herold gefunden hat [s. Heilborns
Rezensionen von Evelyn Innes (Nation, Bd. 15, Nr. 46, [13.08.1898], 662-664) und Sister Teresa (ebd., Bd. 18,
Nr. 45, [10.08.1901], 713-715)], sieht ihn die Londoner Kritik mit
scheelen Augen an. Teilweise spricht sogar offenkundige Gehässigkeit aus ihr.
Das hat seinen Grund.
George Moore hat sich neuerdings
einer national-irischen Bewegung mit antienglischer oder zum mindesten
antilondoner Spitze verschrieben. Die Millionenstadt an der Themse, die Wiege
des romantischen Dramas, die Nährmutter des Romans im achtzehnten Jahrhundert,
gilt dem Sohne Erins heute nur noch als ein Trümmerhaufen der Poesie. Die Kunst
gedeiht in der Jugend eines Volkes; die Kunst kehrt nie dahin zurück, wo sie
einmal gewesen: das sind die beiden Fundamentalsätze, die in der programmatischen
Vorrede zu The Bending of the Bough
[1900] bewiesen werden sollen. Irland wird als die künftige Heimstätte der
ahasverisch unsteten Dichtung begrüßt; die Gründung des Irish Literary Theatre ist das greifbare Ergebnis dieser
Bestrebungen. Moore selbst, mit dem [Edward] Martyn und [William Butler] Yeats
in Reih und Glied stehen, hat sich mit seiner Komödie nicht eben als Meister in
der »Essigfabrik der Satire« [Jean Paul] bewährt.
[...] Irland, das Land der Poesie
und Politik! George Moore vereinigt beide Seiten. Seine Poesie sei uns
willkommen; seine Polemik betrachten wir mit gemischten Gefühlen. Ja, wir
bedauern es, daß der Politiker den Poeten ins Schlepptau nimmt. Wenn der
Vorkämpfer für Irlands Mission dem reinen Kunstwerk Evelyn Innes hinterdrein [in der Überarbeitung des Romans in der popular edition von 1901] ein
propagandistisches Schwänzchen anhängt, so fühlt man Absicht, und man wird
verstimmt.
Um so williger und uneingeschränkter
dürfen wir dem Kunsttheoretiker Lob spenden. Sein Essayband Impressions and Opinions [1891] gehört
zum Besten, was diese Gattung in England hervorgebracht hat. Der modernen
französischen Literatur gelten die vorzüglichsten Beiträge. Moore kam nicht nur
mit Verlaine in persönliche Berührung [...], sondern er hat von den Modernen in
Frankreich Anregung empfangen. Seine »Beichte eines jungen Mannes« [Confessions of a Young Man (1886)]
verleugnet den Einfluß Zolas nicht; die Spuren dieser Einwirkung lassen sich
bis zu Esther Waters verfolgen.
Der Theoretiker reicht dem Romancier
die Hand. Namentlich in den Celibates
und in Evelyn Innes kommt er häufig
zu Worte. Bisweilen sprengen die Exkurse das Gefüge der Handlung, fallen als
selbständiges Ganze heraus; etwa die prachtvolle Würdigung Balzac’s, wenn
Evelyn mit ihrem kunstverständigen Liebhaber zum Rennen in Longchamps fährt.
(Daß Moore dies selbst empfunden hat, lehrt die stark gekürzte zweite Fassung.)
Seinen Standpunkt zur Malerei hat er
in Modern Painting [1893]
niedergelegt und geistreiche Bemerkungen über sie in die mehrfach erwähnte
Vorrede zu The Bending of the Bough
eingestreut. [...] Sie gilt Moore als die geheimnisvollste aller Künste. [...]
Moore’s Vielseitigkeit beweist sich
glänzend dadurch, daß er auch die Musik mit Vorliebe in seinen Büchern heranzieht.
[...] Moore schwärmt wie sein Organist Innes für die liturgischen Gesänge der
katholischen Kirche; Palestrina ist deren Gipfel. Der alte Innes findet nicht
mehr den Anschluß an die moderne Musik [...]. Wagner wird für Evelyn der
Ausdruck und die Verkörperung dieser Welt. Der große Zauberer erschließt ihr
das Buch des Lebens. Der Übergang von Palestrina zu Wagner bedeutet für sie
zugleich den Übergang von der gebundenen Glaubenssphäre zu einem Memento vivere. Und in dem Maße, wie
Wagner ihr verbleicht, wie er ihr allmählich nichts mehr geben kann, liegt für
Schwester Teresa ein Zurücksinken in den Vorstellungskreis ihrer Jugend. George
Moore bleibt bei aller Verehrung Wagner gegenüber stets in letzter Linie
bewundernd zweifelnd, zweifelnd bewundernd. [...]
Welcher englische Romanschreiber der
Gegenwart wüßte uns mehr zu geben, wüßte die Saiten anzuschlagen, die unsere
literarischen Neigungen stärker mitschwingen lassen? Kipling hat seinen Beruf
als imperialistischer Gockel gefunden, Thomas Hardy’s Lebenswerk wurzelt in
Wessex. George Moore’s Bücher sind für uns – freilich für wieviele? – ein
Ereignis, ein Familienereignis.
Den Rat, der Mildred Lawson, der
Anfängerin, erteilt wird: »Je realistischer, um so besser« [Celibates, Kap. 4], schien Moore
mit Feuereifer von der Palette auf die Feder zu übertragen. So stieß er seine
Landsleute einfach ab; sie konnten es nicht verschmerzen, daß er das Gesetz der
Schönheit mit Füßen trat, um am Altar der Wahrheit zu opfern. [...] Die
Schönheit des schlichten Herzens, die in Esther
Waters verherrlicht werden sollte, wurde schlechtweg als Unsittlichkeit
empfunden, das soziale Mitleid nicht als Patina geduldet. Man sah das tiefe
Verderben, doch nicht das menschliche Herz. [...] Man überhörte den vollen
Erlösungsakkord, den die poetische Gerechtigkeit zum Schluß erklingen läßt.
[...]
Der Glaube an sich selbst hat Esther
Waters in allen Irrungen und Wirrungen nicht sinken lassen. Ihre Religiosität
war wohl zwischen den Mühlsteinen des Lebens zerrieben worden; da war zur rechten
Zeit das Selbstvertrauen in die Lücke eingerückt. Nachdem sie ihren irdischen
Zweck erfüllt hat, kehrt die Methodistin zu der Religiosität zurück, die in ihr
erstarren, doch nicht aussterben konnte. Was für Esther das Kind, ist für
Evelyn Innes die Kunst. [...]
»Schwester Teresa« ist gleichsam ein
Kompendium der Ideen und Gestalten aus früheren Werken George Moore’s. Mit
Esther teilt sie die tief eingewurzelte Religiosität; mit Mildred Lawson hat
sie die Konsequenz der Inkonsequenz; mit John Norton das Verzagen an sich
selbst, die beständige Gemütsaufregung; mit den Celibates insgesamt die Scheu vor der Ehe gemeinsam. Die Fäden von
einem Roman zum anderen schießen hin und her. Noch mehr als früher sind die
Begebenheiten, die äußeren Geschehnisse fast geflissentlich ausgeschaltet, auf
ein denkbares Minimum zusammengeschrumpft. Mit um so größerem Behagen kann der
Seelenanatom in der Zergliederung der Gedanken und Gesinnungen schwelgen. Wir
besitzen kaum einen Frauencharakter, dem eine derartige chemische Analyse
zuteil geworden wäre. Jedes Winkelchen in Evelyn-Teresas Herzen wird
durchleuchtet. So genau kennen wir weder Madame Bovary noch Tess und Sue,
Hardy’s sublimste Zeichnungen. [...]
George Moore ist eben ganz
Analytiker, Psycholog. [...] Ihn reizen die Wesen, denen das Leben einen Knacks
gegeben hat, die seinem Temperament oder seinem Phlegma auf halbem Wege
entgegenkommen. Da dringt er mit seinem kühlen, kritischen Verstand ein, läßt
Hüllen heruntersinken, seziert, gibt letzte Aufschlüsse. [...] Er ist ein
seltener Schriftsteller, der sich auskennt im Labyrinth der Brust, aufrecht an
die große Sphinx Leben herantritt und das Mitleid, das soziale sowohl wie das
allgemein menschliche, als wertvollstes Gepäckstück mitbringt. Ihm fehlt jede
spezifisch englische Note. In Deutschland haben wir zur Zeit keinen
Romanschreiber, der ihm gliche oder gleichkäme.
Sein Stil ist das Spiegelbild des
Menschen. Der Psycholog braucht die kurzen, abgehackten, zerrissenen Sätze.
Ruckweise sprudeln sie hervor wie die Worte eines Erregten. Unbekümmert um die
verhältnismäßig starre Grammatik des Englischen, ergeht er sich in gewagten
Inversionen, kehrt das Unterste zu oberst, löst die einzelnen Satzteile
auseinander und verbindet sie wieder in rhetorischer Steigerung. Seine Prosa
wogt auf und ab, taumelt bisweilen hin und her. Beständige Wiederholungen sind
bei ihm unvermeidlich. Wie einer, der vor einer wichtigen Entscheidung steht,
wägt er alle Möglichkeiten sorgsam ab. In der Furcht, zu wenig zu sagen, sagt
er lieber manches zwei- und dreimal. So hält er zum Schluß fast regelmäßig eine
Hauptabrechnung, als sollte der Generalnenner eines Charakters gefunden werden.
Als strenger Richter der eigenen Arbeit erachtet er Umarbeitungen, Kürzungen
für notwendig. Aus Evelyn Innes hat
er z. B. fast ein Drittel herausgestrichen. Auch der Stilist ist
eigentlich spezifisch unenglisch. Vielleicht erklärt sich so am einfachsten,
was den Engländern diesen George Moore entfremdet, was ihn uns empfiehlt.“
● Vgl. Meyerfelds Essay ‚Evelyn Innes
und ihr Dichter‘ in der Zeit vom
24.08.01 (s.o.).
Chatterton.
Nation, Bd. 19, Nr. 1 (5. Oktober 1901), 11-13.
Essay über den „marvellous boy“
(Wordsworth), geschrieben aus Anlaß einer neuen Chatterton-Biographie von
Helene Richter (Thomas Chatterton. Wien
und Leipzig 1900 [Wiener Beiträge zur englischen Philologie, Bd. 12).
● „Die Verse Gerhart Hauptmanns im Promethidenlos:
‚Die Dichter sind die Tränen der Geschichte, die heiße Zeiten mit Begierde
schlürfen‘, finden in der deutschen Literatur manche Stütze, in der englischen
keine bessere als Thomas Chatterton, den Bristoler Wunderknaben, der, noch
nicht achtzehn Jahre alt, seinem Leben freiwillig ein Ende setzte. [...] Wenn
man von Burns und Byron absieht, gibt es in der englischen Literatur wenige
Dichter, deren Leben so den Gebildeten geläufig ist wie das Chatterton’s; ja,
man darf getrost behaupten, sein Leben sei den meisten vertrauter als seine
Dichtungen, ein rein menschliches Interesse habe das ästhetische
zurückgedrängt. Denn in alle Bewunderung dieses frühreifen Talents mischt sich
stets ein gewisses Kuriositätsinteresse, und mehr noch als Bewunderung war es
vielleicht das Mitleid, das ihm einen Glorienschein wob. Sein Erdendasein war
ein Tränenblatt der Geschichte, und namentlich die englischen Dichter haben es
‚mit Begierde‘ geschlürft; sie wurden nicht müde, den Benjamin Apolls zu
verherrlichen, wie ihm auch Alfred de Vigny ein Drama [1835] und Leoncavallo
eine Oper [1896] gewidmet haben. [...] Wenn ich einmal so ketzerisch sein darf,
den Literaturhistoriker zu verleugnen und als moderner Genießender an die
beiden Bände seiner Werke heranzutreten [The
Poetical Works: With an Essay on the Rowley Poems by Walter W. Skeat and a
Memoir by Edward Bell (1871)], so bleibt allerdings nicht allzu viel übrig,
das uns heute noch erfaßt. Ich freue mich des frischen Balladentons, der
manchmal überraschend getroffen wird, z.B. in der ‚Tragödie von Bristowe‘
[‚Bristowe Tragedie‘]; ich bewundere die ‚Resignation‘ [‚The Resignation‘] als
ein aus tiefstem Herzen quellendes Gedicht; ich staune die ‚Ballade von der
Barmherzigkeit‘ [‚An Excelente Balade of Charitie‘] als den Gipfel seines
Schaffens an. Wenn ich mich jedoch auf den historischen Standpunkt stelle – und
er ist der allein berechtigte –, so muß ich bekennen: die englische Literatur
des achtzehnten Jahrhunderts, dieser große Rokokogarten, hat vor Chatterton
wenige Vertreter aufzuweisen, deren Schöpfungen Ewigkeitszüge tragen. Er führte
sie einen beträchtlichen Schritt vorwärts, indem er die Eisenkette der
Konvention, des herkömmlich Erstarrten lockerte und das Persönliche in die Waagschale
legte. So ist er ein unmittelbarer Vorläufer von Robert Burns geworden. Und
wenn ich endlich rein menschlich urteilen darf, so gestehe ich: Thomas
Chatterton’s Leben ist eine der ergreifendsten Tragödien. Nicht Kleist, nicht
Hölderlin, nicht Lenau vermögen uns so mit innigstem Mitleid zu erfüllen. Sein
Verzweiflungskampf in London ist eine herzbewegende Episode aus einem
künstlerischen Erdenwallen. Als Gesamterscheinung bleibt dieser dichtende Knabe
und Jüngling das größte Phänomen aller Literaturgeschichte.“ ● Siehe auch Meyerfelds
Buchbesprechungen im LE vom 15.03.02
und in den ES, Bd. 31, Nr. 1
(1902).
Durchgefallen.
Nation, Bd. 19, Nr. 2 (12. Oktober 1901), 30-32.
Erzählung von einem Untertertianer,
der sich nach mehreren nicht bestandenen Prüfungen das Leben nehmen will und
von diesem Vorhaben durch gutes Zureden von seinem Onkel abgehalten wird.
● „Der dicke Robert Schmidkunz durfte nur jeden zweiten Sonntag zu Hause
essen. Zwei Jahre hatte er erfolgreich die Bänke der Untertertia gedrückt und
konnte sich infolge seines angeborenen Beharrungsvermögens nicht zum Steigen
entschließen. Da war Papa Schmidkunz die Geduld ausgegangen: er gab seinen
Einzigen zu einem Lehrer [Herrn Meister] in Pension; hier sollte er privatim
für die höhere Klasse vorbereitet werden.
Robert, der schon zum Frühstück
erschien, war den ganzen Tag über sehr aufgeräumt. Am Nachmittag kam Onkel
Konrad, der sonntägliche Stammgast, und blieb zum Abendbrot da. [...]
Plötzlich, während eine Pause in der Unterhaltung eingetreten war, rückte
Robert mit seinem lange gehüteten Geheimnis heraus: »Also Herr Meister hat mir
gesagt, im Laufe dieser Woche findet die Aufnahmeprüfung statt.«
Wenn aus heiterem Himmel ein
Blitzstrahl niedergefahren wäre, hätten Vater und Mutter auch nicht
erschreckter Messer und Gabel zur Seite legen können. [...] Nur Onkel Konrad
ließ sich nicht aus der Fassung bringen: [...] »Nu hör’ mich mal an, Diccolo.«
Der Oheim trank den Rest seines Biers aus und machte Miene zu einer gewichtigen
Herzensergießung. »Ich hab’ doch auch mal Examen gemacht, lang genug ist’s
freilich her, un’ hab’ doch noch so’nen Schimmer, wie’s bei dem Rummel hergeht.
Jetzt werd’ ich Dir eine Poloniusrede übers Examen halten. Weißt Du, wer
Polonius ist? Nein, natürlich nicht, das hast Du noch nich gehabt. Also, Konrad
Schmidkunz seinem lieben Diccolo, Obertertianer in spe; Paragraph eins: Einiges muß man wissen. Daran ist nicht zu
rütteln. [...] Aber am letzten Abend lernt man nichts mehr dazu. Da legt man
sich um neun Uhr in die Klappe un’ schläft sich wie’n Murmeltier satt.
Verstandez-vous? – Paragraph zwei: Laß Dich nich verblüffen. Man weiß allemal
mehr, als man sich selbst zutraut, un’ weniger, als einem die Herren von der
Prüfungskommission zutrauen. Das steht bombenfest. [...] Ich bin gleich fertig.
Ich will nur noch eins sagen. Wenn man von etwas keine Ahnung hat, weil man
grad an dem Tag gefehlt oder geträumt hat – was ja in den besten Familien
vorkommen soll –, so hält man schön den Mund und rennt sich nicht hinein. Wir
nannten das auf der Penne „Eispips“, das is die griechische Übersetzung von
Rheinfall bei Schaffhausen. – Paragraph drei bis zehn: Verlaß Dich auf Deinen
Torkel [unverdientes Glück, Dusel]. Das is’ doppelt so viel wert wie’n
vollgepaukter Kopf. So – dixi, um mit dem alten Cicero zu sprechen.« [...]
Nachdem man von Tisch aufgestanden
war, konnte es sich Vater Schmidkunz doch nicht versagen, seinen Sohn unter
vier Augen vorzunehmen: »Du weißt, Robert, ich mach’ nicht so viel Worte wie
Dein Onkel Konrad. Zweimal bist Du sitzen geblieben, in Untertertia
wohlgemerkt; das ist ein starkes Stück. Ich erwarte von Dir, daß Du’s diesmal
packst. Denk doch an das viele Geld, das ich für die Privatstunden ausgebe. Du
wirst uns nicht die Schande antun, ein drittes Mal zu rasseln. Hörst Du,
Robert? Das wäre einfach – – ich wüßte nicht, was ich mit Dir anfangen sollte.
Geht es aber wider alles Erwarten schief, so brauchst Du auch nicht gleich den
Kopf zu verlieren. Das sag’ ich Dir als Dein Vater. Und nun gute Nacht!« [...]
Am Freitag Nachmittag sollte die
Prüfung sein. Donnerstag wurde eine Generalrepetition veranstaltet, die der
Zögling nach Herrn Meister’s Ansicht befriedigend bestand. Am Freitag Vormittag
war ihm das Lernen untersagt; er sollte spazieren gehen. [...] Eine Viertelstunde
vor der festgesetzten Zeit fand er sich bereits im Klassenzimmer ein, auf
Leidensgefährten wartend. Aber niemand kam. Schon schlimm, dachte Robert. Das
Herz fiel ihm in die Schuhe, als es drei schlug und er noch immer allein war.
Es war fünf vorüber, und noch immer
erwartete Herr Meister seinen Schüler vergebens. Als es jetzt draußen läutete,
eilte er selbst auf den Flur, um zu öffnen. Herr Konrad Schmidkunz wollte sich
nach seinem Neffen erkundigen. [Herr Meister:] »Robert ist schon seit drei Uhr
im Examen. Ich denke, er wird jede Minute zurückkommen. Wenn Sie hier so lange
Platz nehmen wollen ...«
Doch Onkel Konrad lehnte dankend ab,
er wolle lieber den Dicken abholen; die Schule sei ja gleich nebenan, da könne
er ihn nicht verfehlen. [...] Auf der anderen Seite der Straße war eine kleine
Bierwirtschaft, von deren Fenster aus sich der ganze Schulhof übersehen ließ.
Konrad Schmidkunz trat ein, bestellte ein Glas Bier, steckte eine Zigarre an
und blickte unverwandt zum Schulgebäude hinüber. Jetzt schlug es sechs. [...]
Onkel Konrad kam sich allmählich als Beobachter auf verlorenem Posten vor. Auf
alle Fälle wollte er aber bis sieben Uhr ausharren.
Mit einem Mal sah er eine kleine
Gestalt über den Schulhof huschen. Das Gesicht des Jungen ließ keinen Zweifel
übrig: durchgefallen. Onkel Konrad sah von seiner sicheren Ecke aus, wie Robert
unschlüssig am Tor stand, sich vergewisserte, ob ihn Meisters nicht vom Fenster
aus beobachteten, und dann den Weg in entgegengesetzter Richtung einschlug.
Hastig zahlte Onkel Konrad seine Zeche und trat hinaus, in den unfreundlichen
Herbsttag.
[...] Die Verfolgung des Neffen war
nicht leicht; es galt unbemerkt zu bleiben und ihn doch nicht aus den Augen zu
verlieren. So hatte Onkel Konrad schon eine Viertelstunde den Späher gespielt.
Als der Junge jetzt aber von der
Hauptstraße abbog und den bekannten Nebenpfad einschlug, der stracks zum See hinabführte,
vermochte sich Konrad Schmidkunz nicht länger zu beherrschen. Er beschleunigte
seine Schritte, bis er einen geringeren Abstand von dem Ausreißer gewonnen
hatte, und rief mit dem ganzen Stimmaufwand, dessen er fähig war, den Namen des
Neffen. Wie ein ertappter Dieb wandte sich dieser um.
»Na, Junge, wohin so spät?« Und
damit legte er ihm die Hand auf die Schulter.
Statt einer Antwort brach Robert in
heftiges Schluchzen aus; kein Wort war aus ihm herauszubringen.
»Heul’ Dich mal erst aus, dann
darfst Du mir Deine Leidensgeschichte erzählen.«
Doch es bedurfte geraumer Zeit, viel
Zuredens und schmeichelnder Worte, um den Kleinen zu beruhigen. [...]
»Ich glaub’ – ich wollt’ – – –«
»Heut ist doch kein Wetter, um am
See zu lustwandeln. Wolltest wohl mit den Nixen Zwiesprache halten? Was,
Schwerenöter, Du?«
»Du weißt ganz gut, was ich da
wollte, Onkel Konrad. Im vorigen Jahr ist der Hans Löwenberg aus meiner Klasse
in den Kanal gegangen. [...] Ach, Onkel Kunz, mir war alles schnuppe. [...]
Also, also in der Schule haben mir die Lehrer immer gesagt, aus dem Schmidkunz
wird doch nie was. Darüber hab’ ich zuerst gelacht. Aber die Jungens haben
dasselbe gesagt, ich könnte mal Stiefelputzer werden. Das hat mich gefuchst.
Und Herr Meister hat’s auch gesagt, ich gehöre zu den Schmarotzern der
Gesellschaft. So ’was ähnliches, ich weiß nicht, ob ich’s richtig behalten
hab’. Und – und weil die mir’s so oft gesagt haben, hab’ ich’s zuletzt
geglaubt. Es ist auch ʼwas Wahres dran, das habʼ ich gemerkt. Ich
kann wirklich nicht wie die andern arbeiten. Siehst Du, daß ich nicht durch’s
Examen kommʼ, das habʼ ich gleich geahnt. Das war grade so mit der
Schwimmprobe. Da haben die Jungens auch immer gesagt: na, Schmidkunz, Du machst
die Viertelstundeprobe doch Dein Leben nicht. Die ersten zehn Minuten ging’s
immer ganz gut, und dann ging mir auf einmal der Atem aus, und ans Ziel bin ich
nie geschwommen. Da haben sie mich jedesmal ausgelacht. Und wie ich’s drei Mal
gemacht hatte, da hat der Bademeister geflucht und gesagt, nun könntʼ ich
mein ganzes Leben im Schweinestall bleiben. Und beim Examen war’s grade so. Da
haben sie mir auch so lang den Mut genommen, bis ich – bis ich ...«
Ein erneuter Tränenanfall machte dem
Bekenntnis ein Ende. [...] Onkel Konrad war sehr ernst geworden. Er fühlte die
Verpflichtung, dem Verzagenden, den er wie ein eigenes Kind liebte, einen Wahn
auszureden, und wußte doch nicht, wie.
»Hörʼ mich mal an, Robert,« hub
er endlich an. »Du hast nie gelernt, die Zähne aufeinander beißen. Es is
traurig, aber es is so. Das is das ganze Kunststück im Leben: zu wollen. Tamen heißt dennoch. Das Tamen machʼ Dir für die Zukunft zur
Richtschnur. Ich sage nicht: wer will, der kann; aber wer will, der kann nie
ganz unglücklich werden. Du bist nichʼ schlecht unʼ bist nichʼ
dumm, hast Herz unʼ Verstand auf’m rechten Fleck; Du bist nur schwach,
hast keine Willenskraft. Die läßt sich aber erwerben, wenn man sich selbst in
die Schule nimmt. Sich nicht irr machen lassen, darauf kommt’s an, von früh
auf. Wer ʼwas leistet, muß Selbstvertrauen haben. Und wer nichts leistet,
darf sich nichʼ alles Selbstvertrauen auspeitschen lassen. Ein Mißerfolg
macht stark, unʼ drei Mißerfolge machen stärker. Deinen Denkzettel hast Du
weg; aber das is ʼn Sporn für die Zukunft. Tamen, mein Junge, tamen!
Und nun laß uns nach Hause gehen und Abendbrot essen!“«“
1911
John Galsworthy. LE, Bd. 13, Nr. 15 (1. Mai 1911), 1090-1094.
Porträt des englischen Schriftstellers, geschrieben aus Anlaß des am 6. März 1911 erschienenen Romans The Patrician. – „Wie Lord Byron mit Grillparzer, wird es den Deutschen mit Galsworthy ergehen – a devil of a name, to be sure, for posterity; but they must learn to pronounce it. [Tagebuch, 12.01.1821] Sie können die Bekanntschaft mit diesem englischen Romanschriftsteller nicht länger ablehnen, es sei denn, daß sie sich bei Auswahl ihrer Lektüre, selbstgenügsam, auf die heimische Produktion beschränkten. – Von dem alten Erbfehler der Deutschen, ihrer Vorliebe für alles Ausländische, kann längst nicht mehr die Rede sein; wenigstens nicht in der Literatur. Der modische Jean de France läuft in ungezählten Exemplaren heut auf allen Gassen herum; der literarische Jean de France ist dafür um so seltener geworden. Kein Zweifel, die Ausländerei im Roman hat bei uns gründlich abgewirtschaftet. Man darf darin ein erfreuliches Zeichen für die Erkenntnis des eigenen Wertes sehen und fühlt sich fast versucht, von einer Gesundung zu sprechen, da wir zum Glück nationale oder chauvinistische Erwägungen in der Kunst nicht gelten lassen. Tatsache ist: Erfolg, breiten Erfolg hatte in den letzten Jahren von ausländischen Erzeugnissen nur das Sensationelle hierzulande (Bücher wie Ssanin [von Michail Petrovitsch Arzybaschew (1909)] oder Das gefährliche Alter [von Karin Michaelis (1910)]), während die reine Kunst des Auslands jetzt vielfach an verschlossene Türen klopft. ● Ein reiner Künstler ohne alles Bluffende und Blendende, ohne alles Marktschreierische und Massenködernde ist John Galsworthy, der heute der englischen Welt als einer ihrer Besten gilt. Sein Ruhm ist verhältnismäßig jungen Datums. Erst an der Schwelle der Vierzig trat er in die grelle Sonne des Erfolgs. Seine früheren Romane – Villa Rubein (1900), A Man of Devon (1901), The Island Pharisees (1904), unter dem Pseudonym John Sinjohn veröffentlicht –, noch ohne scharf umrissene Persönlichkeit, doch in ihrem dunkeln Drange des rechten Weges sich bewußt, vielfach vag, doch mit einer unverkennbar bitteren Note und von satirischen Streiflichtern erhellt, vermochten das britische Lesepublikum nicht zu erwärmen, weil ihre eigene Blutwärme gering war. Hier entlud sich kein Temperament; hier bereitete sich ein Charakter vor. Nichts von Sturm und Drang ist darin, nur ein wehes, wundes Lächeln. – Erst 1906, Galsworthys annus mirabilis, brachte ihm, im Roman wie im Drama, die allgemeine Aufmerksamkeit. The Man of Property, den man als die englischen Buddenbrooks bezeichnen darf (deutsch unter dem Titel Der reiche Mann bei Bruno Cassirer, Berlin, erschienen), stellte ihn mit einem Schlage in die vorderste Reihe. Wie bei Thomas Mann war das Erstaunen der bis dahin zurückhaltenden Menge groß, daß tastenden Anfängen ein so rundes, reifes, als Kulturbild unvergängliches, in der Detailschilderung meisterhaftes Werk gefolgt war. Der Verwunderung gesellte sich bald die Bewunderung, als Galsworthy mit The Silver Box (ich habe diese ihres deutschen Erweckers noch harrende Komödie Der Zigarettenkasten genannt [1909; deutsche Erstaufführung 1914 (s. Sektion ‚Selbständige Veröffentlichungen’)]) einen vollen Sieg auf der Bühne errang. – Seitdem ist die Kette seiner Triumphe nur ein einziges Mal gerissen: als das Court Theatre [Savoy Theatre] in London das allzu skizzenhafte Schauspiel Joy aufführte [Premiere 24.09.07]. Das Drama Strife, in dem ohne alle Parteilichkeit, mit gemessener Objektivität der Kampf zwischen Kapitalisten und Arbeitern behandelt wird, ließ die Engländer erkennen, daß dieser Schriftsteller, wie jeder Brite, in das soziale Leben der Nation einzugreifen entschlossen war [Uraufführung am 09.03.09 am Duke of York’s Theatre]. Und mit seiner Tragödie Justice (Justiz) wagte er es sogar, die mittelalterliche Grausamkeit des englischen Gefängnissystems anzugreifen; keineswegs in tendenziöser Weise, sondern einfach durch ein getreues Abbild der herrschenden Zustände [Erstveröffentlichung und Uraufführung 1910; deutsche Übersetzung durch MM und deutsche Erstaufführung 1913 (s. Sektion ‚Selbständige Veröffentlichungen’)]. Den Braven traf nicht die Ächtung des Volkes, das ungern an seinen durch die Zeit, aber nur durch die Zeit sanktionierten Einrichtungen rütteln sieht, sondern die Achtung vor seiner guten Tat ging so weit, daß sich das Parlament alsbald mit der Reform der Strafanstalten beschäftigte. Welchem deutschen Drama unserer Tage wäre ein so praktischer Erfolg beschieden gewesen? (Man wird mit Interesse vernehmen, daß es dem Engländer John Galsworthy gelungen ist, durch eine novellistische Studie, enthalten in dem Sammelbande A Motley [1910], die Entlassung eines zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilten deutschen Gefangenen zu erwirken. Ich würde diese unglaublich klingende Tatsache nicht mitteilen, wenn sie mir nicht von einem Berliner Staatsanwalt bestätigt worden wäre. [Cf. H. V. Marrot, The Life and Letters of John Galsworthy (1935), S. 259: ‚In late May, 1910, he (Lord Northcliffe) and Galsworthy together went over the Moabit Prison in Berlin. There they saw two prisoners serving life-sentences, one of whom was the inspiration of the sketch The Prisoner in A Motley; and one of the two was released through their joint efforts.’]) ●● Ob der Dramatiker Galsworthy Sitz und Stimme bei uns erwerben wird, darüber mögen die Ansichten auseinandergehen. Der Romanschriftsteller wird schon deshalb seinen Weg machen, weil wir nicht mit allzu vielen Ebenbürtigen gesegnet sind. Möglich, daß er auf eine kleine Gemeinde beschränkt bleiben wird. Denn er schreibt weder für den Bildungsmob noch für den gebildeten Snob, sondern – mit Lessing [Klopstock] zu reden – für wenige Edle [Der Messias, I. 19]. Aber gerade diese werden an seiner unfehlbaren Technik, an seiner erlesenen Wortkunst (er wird als einer der besten englischen Stilisten geschätzt), an seinem glänzenden Kunstverstand ihre Freude haben. Kunstverstand – ja, das ist es. Kein Himmelstürmer dräut mit Felsblöcken; kein Prometheus schwingt die lodernde Fackel; kein Dilettant strebt ahnungslos ins Blaue: ein feiner Mensch, der die Grenzen seiner Kraft kennt, verweilt mit Geschmack und Takt auf dem Boden der Wirklichkeit. Was er will, das kann er. Er weiß, worauf es ankommt, und arbeitet das mit sicherer Hand heraus. Unerbittlich in seiner Wahrheitsliebe, verfällt er nie in einen brutalen Realismus. Schönfärberei liegt ihm so fern wie die krasse Deutlichkeit der Dinge. Wo er sie einmal geben zu müssen glaubt, nimmt er ihr das Abstoßende, indem er das gemein Gegenständliche, ähnlich wie Clara Viebig, zum Symbolischen zu steigern bemüht ist. Er individualisiert die Typen, er typisiert die Individuen. Fast hinter jeder seiner Gestalten sieht man eine lange Reihe von Charakteren der gleichen Art auftauchen; jede wächst ins Typische hinauf und hat die Sondermerkmale des Einzelwesens. – Von Galsworthys dramatischen Figuren gilt dies noch in erhöhtem Maße. Man denke an die arme Mrs. Jones im Zigarettenkasten: schon der Name so alltäglich wie möglich, die Trägerin selbst ein Alltagsgeschöpf, und doch wird diese Mrs. Jones die schlichte Frau aus dem Volke; ihr unverdientes Unglück ist die Tragik der Gattung. Man denke an den leichtsinnigen Bankangestellten in Justiz: jeder nervöse junge Mann in London, dem die Versuchung in Form von Banknoten so bedrohlich auf den Leib rückt, ist irgendwie William Falder, und an dem Schicksal dieses Einzelnen wird mit tödlicher Sicherheit gezeigt, wie das Rad der Justiz einen armen Teufel, der, nachdem er für seinen Fehltritt gebüßt, wieder hochkommen möchte, schonungslos zermalmt. Oder ein Beispiel aus dem Roman The Man of Property: hinter jedem Forsyte steht eine unendliche Zahl gleichgearteter Engländer, die in ihrer Gesamtheit die upper middle class ausmachen. ●● Diese Klasse, der Rumpf des britischen Weltreichs, ist Galsworthys Domäne. Kein Schriftsteller hat ihre Vertreter je schärfer gesehen, ihre Schwächen so durchleuchtet, ohne für ihre Vorzüge blind zu sein. Zum Glück ergeht es Galsworthy nicht wie Dickens oder Anzengruber, die Gestalten aus höheren Gesellschaftsschichten nur gesperrt oder verzerrt darzustellen vermochten. Daß er auch in der Aristokratie Bescheid weiß, dafür bürgte schon der Roman The Country House [1907] und das noch unveröffentlichte Drama The Eldest Son [1912]. Den vollgültigen Beweis erbringt jetzt sein Roman The Patrician (London, William Heinemann). – Die Handlung ist, wie immer bei Galsworthy, möglichst einfach. In einem Satze zu erschöpfen. […] Die Handlung, wie gesagt, äußerst karg und doch eine Fülle des Geschehens. Keine stofflichen Überraschungen, auch nicht einschneidende innere Wandlungen – dazu sind alle Charaktere zu sehr in sich gefestigt –, sondern Zuckungen, Vibrationen, seelisches Erbeben und Erleben unter der scheinbar ruhigsten Oberfläche. Mögen Galsworthys Menschen noch so schwere Krisen durchmachen, sie verlieren nie die Herrschaft über sich selbst. Jeder von ihnen bleibt noch in Stürmen captain of his soul [William Ernest Henley, ‚Invictus’ (1888)]. Das Motto, das an der Spitze des neuen Buches steht: ‚Charakter ist Schicksal’ [‚Character is Fate’], geleitet alle Geschöpfe dieses eminent britischen Schriftstellers durch das Labyrinth des Lebens. Sie besitzen von Haus aus nicht stoische Unerschütterlichkeit, die ein Resultat ist, sondern insulare Selbstbeherrschung, die angeboren ist. Sie meistern freilich nicht das Leben, aber das Leben hat auch nicht Gewalt über sie. – Vor allem: sie lassen in Gegenwart andrer nie sehen, welche Kämpfe und Krämpfe sich in ihrer Brust begeben. Sie scheinen unberührt und sind innerlich doch tief gerührt, vielleicht sogar in den Tiefen aufgerührt. Sie weigern sich, ihre Gefühle zu zeigen, wie es die gute Sitte des Landes vorschreibt. Sie haben eine erstaunliche faculty for dumbness. Nichts wäre verkehrter, als Galsworthys Menschen gefühlsarm oder gar blutleer nennen zu wollen; aber wortarm sind sie, wortarm bis zu einem Grade, daß der mit englischem Gemütsleben nicht vertraute Kontinentale leicht zu dem falschen Schluß kommen wird, sie sagten nichts, weil sie nichts zu sagen hätten, weil nichts in ihnen vorgehe. Diese Inselmenschen, von denen jeder auf einer Separatinsel zu hausen scheint, können nicht, wie Tasso, der Natur nachrühmen: ‚Sie ließ im Schmerz mir Melodie und Rede, die tiefste Fülle meiner Not zu klagen.’ [V, v. 3430 f.] Ihnen gab kein Gott zu sagen, wie sie leiden. – An einer Liebesszene sei veranschaulicht, wie weit diese extreme Sparsamkeit mit Worten geht. […] Wortkarger hat sich wohl nie eine Werbung im Roman abgespielt; doch was zwischen den Worten, mehr noch: zwischen den Zeilen steht, ist aufschlußreich genug und verschweigt uns nicht das wahre Wesen dieser schweigsamen Menschen. Höchste Kunst, fast schon Virtuosität bewährt sich hier. – Wir Deutschen sind mehr für Gefühlsentladung als für eine so singuläre Zurückhaltung. Darum stehen uns die romanischen Menschen in der Kunst meist näher. Ich führe gern den Racine’schen Helden an, der in die pathetische Klage ausbricht: ‚Madame, je me suis tu cinq ans’, im Gegensatz zu dem Schäfer in Thomas Hardys Roman Far from the Madding Crowd, der viel länger schweigt, ohne seine Neigung durch ein Sterbenswörtchen zu verraten [vgl. MMs Buchbesprechung vom 01.01.05]. Bei dem Franzosen ist die Hauptsache: nicht daß er fünf Jahre schweigt, sondern daß er es endlich herausschreit. Der Engländer würde sich eher die Zunge abbeißen. Ich weiß wohl, das britische Temperament ist der Kunst nicht immer förderlich, und es wird auch Galsworthys Anerkennung in Deutschland erschweren. Aber sein außerordentliches Können steht fest, obgleich ihm das Hinreißende versagt ist. In einem Lande, wo so viel fortissimo gesprochen wird – auch in der Literatur –, sollte ein Künstler des piano schon als Ausnahmeerscheinung fesseln.“
1916
Gerichtstag. NZZ, Nr. 2124, Sechstes Sonntagblatt, 24. Dezember 1916.
Gedicht in Prosa. – „Und Gott sprach zu einem seiner Engel: ‚Laß am Geburtstag meines Sohnes alle Opfer dieses Krieges vor mir erscheinen.’ – Und der Engel ergriff eine der für den Tag des jüngsten Gerichts bereit stehenden Drommeten und gab den Seelen der Gefallenen das Zeichen, vor ihren Richter zu treten. – Und als sie den Ton der silbernen Tuba vernahmen, machten sie sich sogleich auf den Weg. Obwohl die Schatten gar keinen Raum für sich beanspruchten, war auf allen Straßen des Himmels ein solches Gedränge, daß die Engel nicht wie sonst ihre Flügel ausspreiten konnten, sondern eng an sich schmiegen mußten. – Die Erzengel, als Leiter der Himmelspolizei, achteten besonders darauf, daß keiner sich dem Rufe entzog, und trieben die Säumigen zur Eile an. – Siehe! Da fanden sie die Seele eines gemeinen Soldaten, die sich abseits hielt und sich zu verbergen suchte. – ‚Was zauderst du?’ redete sie einer der Erzengel an. ‚Hast du den Ruf nicht gehört, und willst du ihm nicht folgen?’ – Und die Seele antwortete: ‚Ich schäme mich.’ – ‚Was hast du begangen?’ erwiderte ihr der Erzengel. ‚Gott kennt deine Sünde, auch ohne daß du sie vor Ihm bekennst.’ – ‚Ich konnte Menschen, die mir nichts getan haben, nicht hassen. Darum zog ich einem Leben, das mir das Morden zur Pflicht machte, den freiwilligen Tod vor. Meine Kameraden ziehen mich deshalb der Feigheit …’ – ‚Und du glaubst, daß der höchste Weltenrichter diese Tat unverzeihlich finden wird?’ – ‚Ich glaube, daß nur Er sie verzeihlich, ich glaube, daß Er sie nur zu verzeihlich finden wird. Darum schäme ich mich, mit reinem Gewissen vor Ihm zu stehen, wenn meine Brüder alle schuldbeladen vor Ihn hintreten.’“
1917
Die Zukunft der Deutschen Bühne. Fünf Vorträge und eine Umfrage, hrsg. vom Schutzverband deutscher Schriftsteller, (Berlin 1917), 127.
Am 10. Mai 1917 verabschiedete der Schutzverband deutscher Schriftsteller im Berliner Beethovensaal – gemeinsam mit dem Goethe-Bund, dem Verband deutscher Bühnenschriftsteller, der Vereinigung künstlerischer Bühnenvorstände und der Gesellschaft für Theatergeschichte – folgende Entschließung: „Die Zukunft der deutschen Bühne darf und kann nicht abhängig gemacht werden von obrigkeitlicher Bevormundung, noch von Stimmung und Willensäußerung einzelner Gruppen oder organisierter Massen; sie kann nur in der Freiheit geistiger Entwicklung dem Volke Kraft und Erhebung zuführen. Diese Freiheit verlangt, daß die deutschen Bühnen sich mehr als bisher den jungen schöpferischen Begabungen öffnen und den deutschen dramatischen Eigenbau nicht zu Gunsten der ausländischen Bühnenschriftsteller zurückdrängen. Wenn auch die Pflege der Weltliteratur im Sinne Goethes ein stolzes Erbteil der deutschen Bühne bleiben muß, so darf doch keine Kraft des eigenen Bodens durch die Teilnahmslosigkeit der Bühnenmachthaber verkümmern.“ Die Entschließung wurde anschließend zum Gegenstand einer öffentlichen Umfrage gemacht, in der sich 92 Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Kultur zu Worte meldeten, darunter auch Meyerfeld: „Ich erkenne nur eine Zensur an: den guten Geschmack. Der wird (vielleicht) durch die lebenslange Beschäftigung mit Kunstdingen, niemals von Polizeiorganen erworben. Denken ließe sich: ein Areopag von Staatsmenschen, die – nach ungeschriebenen Gesetzen – eine Art Zensur ausüben; eine Behörde von Staatsbeamten, denen der Buchstabe über den Geist geht, ist dazu nicht imstande. – Landesgrenzen in der Kunst sind so verblödend wie Parteien in der Politik. Heimisches verdient selbstverständlich vor Fremden gleichen Ranges den Vorzug. Ausländische Erzeugnisse mittlerer Güte haben auf deutschen Bühnen nur dann etwas zu suchen, wenn sie ethnographischen Wert besitzen; ausländische Kunstwerke gehören auf sie. – Man ehrt das Alter im Leben – seiner Enttäuschungen wegen; man ehre die Jugend in der Kunst – um ihrer Versprechungen willen.“
Verallgemeinerungen. NZZ, 3. Juni 1917, Zweites Sonntagblatt, Nr. 997.
Plädoyer gegen Verallgemeinerungen, insbesondere in Bezug auf Volksgemeinschaften. – „Als abschreckendes Beispiel einer maßlos übertreibenden Verallgemeinerung ist jedermann die Geschichte vom rothaarigen Kellner geläufig. Ein Engländer, der zum erstenmal nach Deutschland kommt, wird von einem rothaarigen Kellner bedient und trägt sogleich in sein Tagebuch ein: alle deutschen Kellner (oder vermerkt er gar: alle Deutschen?) sind rothaarig. Worin liegt die Komik der weit verbreiteten, in vielen Fassungen überlieferten Anekdote? Darin, daß einer einmaligen, von Sr. Majestät dem Zufall mit spielerischer Laune gebotenen Erscheinung allgemeine Gültigkeit zugeschrieben, daß Schicksalswillkür als Gesetzmäßigkeit ausgegeben wird. Hier rennt ein fixes Trugschlußverfahren die ehernen Satzungen der Logik über den Haufen. Hier brüstet sich die flüchtige Beobachtung des Augenblicks mit dem Schein einer auf tiefe Kenntnis gegründeten Erfahrung. Der Neuling gebärdet sich als Adept. – Unser Engländer – man gebe sich keiner Selbsttäuschung hin – ist überall zu Hause. Bei sämtlichen Völkern des Erdballs. Bei den Amerikanern so gut wie bei den Lappländern (bei den zu Mammutmaßen neigenden Amerikanern vermutlich mehr). Bei ‚all sorts and conditions of men’. Hoch und niedrig, reich und arm, jung und alt schwelgen in voreiligen Folgerungen. […] – Dieses Musterbeispiel [‚Alle deutschen Kellner sind rothaarig’] […] liegt auch, bis zu einem gewissen Grade, den Rassetheorien zugrunde, sofern sie über somatische Sonderzüge, d.h. Eigentümlichkeiten der Körperbeschaffenheit, hinausgehend seelische Eigenheiten der Völker über einen Kamm zu scheren trachten. Lessing erkannte jedem Menschen, wie seine eigene Nase, seinen eigenen Stil zu […]; die Herren Rassetheoretiker – Nachkommen des alten Prokrustes, die jeden so lange strecken oder an Haupt und Gliedern kürzen, bis er sich ihrer Formel fügt – lassen dem Menschen nicht einmal die eigene Seele. Und doch zählen, wenn die körperlichen Besonderheiten der Menschen nach Millionen rechnen, ihre seelischen nach Myriaden. Das paßt den Schematikern schlecht in den Kram. Ihnen steht das System höher als das der Regel spottende Einzelwesen. Ordnet es sich nicht willig ein, so wird, mehr keck als sanft, Gewalt gebraucht. Bietet es selbst nicht mehr die geringste Handhabe zur Einschachtelung, so werden die Vorfahren auf Herz und Nieren geprüft. Wenn nur die Fälschung gelingt! – Nicht ohne Genugtuung haben wir es erlebt, daß die auf Verallgemeinerungen beruhenden, blöden Kollektivurteile, die über ganze Völker im Schwange waren, insgesamt während des Krieges elendiglich Schiffbruch litten. Es hat sich herausgestellt, daß an dem niederträchtigen Geschwafel kein wahres Wort ist. Wie oft wurde uns vorgeredet, daß das eine Volk wohl impulsiv, aber nicht ausdauernd sei! Wie oft mußten wir hören, daß ein anderes Volk in der Erfindung von Ideen wenig, nur in deren Verwertung etwas geleistet habe! Wie oft wurde, zum Zwecke der Verhetzung, die eine Rasse gegen die andere mobil gemacht! Sie sollten jetzt, Wehmut in der Brust, Demut im Herzen, voreinander den Hut ziehen, weil jede von ihnen ungeahnte Kräfte entwickelt hat. Begreiflicher, weil der Verblendung entsprungen, doch ebenso bedauerlich sind die haarsträubenden Verallgemeinerungen, die der Krieg selbst erzeugt hat. Ein ganzes Volk, eine unendliche Vielheit von schwarzen und weißen Böcken, wird kurzerhand mit einem Schimpfwort abgetan. Jede Regung eines andern Volkes soll in einem sogenannten Nationallaster ihre Erklärung finden. Und so geht es ohne Grazie und ohne Geist weiter. Ach, der Krieg verdummt die Besten! Zum Glück machen die Kämpfer selbst den Unfug am wenigsten mit. Das läßt vielleicht erhoffen, daß sie später dazu berufen sind, den Wahn zu zerstreuen. – Sie haben – wir alle haben die Pflicht, weil wir wissen, daß die Verachtung der Volkheiten nicht von heut auf morgen ausgetilgt werden kann, die Achtung vor dem Einzelwesen zu predigen, zu fördern, zu beweisen. Und wenn auf tausend Ungerechte nur ein Gerechter käme, dürfte man nicht über die Gesamtheit den Stab brechen. Es gilt, die alten Verallgemeinerungen, mehr noch die neuen, die nur die Gemeinheiten hervorheben, beherzt über Bord zu werfen. Die Morgenröte einer besseren Zukunft wird an dem Tage leuchten, da man den Menschen nicht mehr nach einer zufälligen Stammesangehörigkeit, sondern nach seinem eigenen Werte beurteilt. In diesem Sinne wollen wir arbeiten und nicht verzweifeln.“
Noralgie. NZZ, 17. Juni 1917, Drittes Sonntagblatt, Nr. 1096.
Über das Schwanken der Menschen im 1. Weltkrieg zwischen Hoffen und Bangen. – „Kein Druckfehler liegt hier vor. Weder Neuralgie noch Nostalgie ist gemeint; nicht der körperliche Nervenschmerz und nicht die durch Heimweh hervorgerufene seelische Verstimmung, so lockend es wäre, gerade dieser, die jetzt Millionen von Männern als Opfer fordert, eine Betrachtung zu widmen. Gemeint ist die zwischen Sorge und Hoffnung schwankende Beklommenheit, die auf der Frau des Rechtsanwalts Torwald Helmer lastet – besser bekannt unter dem Namen Nora. Sie hat vor Jahren, wenn auch aus den edelsten Beweggründen, eine strafbare Handlung begangen. Gelangt diese zur Kenntnis ihres Mannes, so ist es um ihr Glück geschehen. Der Mitwisser droht Enthüllung an; Nora zittert vor den Folgen. Wird er den Brief, der ihre Tat aufdeckt, in den Kasten werfen? Der Unhold, der Gewalt über ihr Schicksal hat, entfernt sich; Nora öffnet die Vorzimmertür und lauscht. ‚Es fällt ein Brief in den Briefkasten. Mit einem unterdrückten Aufschrei läuft Nora durchs Zimmer’ (lautet die Bühnenanweisung) und flüstert dann nach kurzer Pause: ‚Im Briefkasten’. – Dieses lakonische ‚Im Briefkasten’, das über das Lebensglück einer dichterischen Gestalt entscheidet, hat ungeahnte Bedeutung für alle oder doch fast alle Zeitgenossen gewonnen. Selbst wenn es sich nicht um die Bedrohung der persönlichen Freiheit, um den Eingriff eines Unholds handelt – wem bangte nicht vor einer Nachricht, die er durch die Gitterstäbe des engen Gehäuses schimmern sieht? Die Blicke aller Mütter, Frauen, Bräute, Schwestern, die einen lieben Angehörigen im Felde haben, hängen angstvoll an dem kleinen Kasten aus Holz oder Blech. Es hat sich eine furchtbare Macht angemaßt, birgt zahllose schicksalsschwere Mitteilungen, zerrt an den Nerven der armen Erdenkinder, grinst sie an, wenn er leer ist, jagt ihnen durch ein Stück Papier einen panischen Schreck ein, verläßt sie zu keiner Stunde des Tages in ihren Gedanken, schleicht sich bei Nacht in ihre ruhelosen Träume und setzt ihrer verzehrenden Ungeduld sein ewig unerschütterliches ‚Ich kann warten’ hämisch entgegen. – […] Wie richtig hat Ibsen die Phantasie der Frau beurteilt, wenn er seiner Nora in solcher Lage die Worte in den Mund legt: ‚Im Grunde ist es doch eine Seligkeit, auf das Wunderbare zu warten!’ Und wir wollen wünschen, daß Noras bittere Enttäuschung recht, recht vielen Frauen erspart werde, daß sie nicht mit ihr zum Schluß blutenden Herzens sagen müssen: ‚Ich glaube an keine Wunder mehr.’ – ‚Im Briefkasten’ und ‚Das Wunderbare’ – so heißen die beiden Akte einer Tragödie, die sich während der letzten drei Jahre in ungezählten Variationen täglich, stündlich in fast allen Ländern unserer mißhandelten, zum Zerrbild entstellten Erde abgespielt hat. Zwischen der Furcht vor einem von Menschenhand verhängten Unabwendbaren und der Hoffnung auf übernatürliche Hilfe pendelt heute das Leben von Millionen. Im Briefkasten – das bedeutet die Unfreiheit, die Gebundenheit, die Machtlosigkeit des Menschen. Das Wunderbare aber ist, daß dieser unlösbar an sein Schicksal geschmiedete Staubgeborne, vermöge der ihm und in aller Schöpfung nur ihm verliehenen Phantasie, einen Flug zu den Sternen nimmt und an das Wunderbare glaubt. ‚O wunderbar, wunderbar und höchst wunderbarlich wunderbar und nochmals wunderbar,’ heißt es bei Shakespeare in Wie es euch gefällt.“
Was siehest du aber ... NZZ, 22. Juli 1917, Zweites Sonntagblatt, Nr. 1344.
Protest gegen die Schwarz-Weiß-Malerei des Weltkrieges in den am Krieg beteiligten Ländern: „‚Und er sagte ihnen ein Gleichnis: Mag auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen? … Was siehest du aber einen Splitter in deines Bruders Auge, und des Balkens in deinem Auge wirst du nicht gewahr? … Du Heuchler, ziehe zuvor den Balken aus deinem Auge, und besiehe dann, daß du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehest.’ [Matthäus 15:14, 7:3-5.] – Von allen Weisheitssprüchen des Evangeliums, das nun schon drei Jahre lang außer Kraft gesetzt ist, wird kaum einer täglich, stündlich öfter vergessen als dieser. Nicht so sehr von denen, die mit Waffen, wie von denen, die mit Worten kämpfen. In den am Kriege beteiligten Ländern erscheint heute selten ein Zeitungsblatt, das nicht wissentlich und freventlich gegen jenen Satz verstößt. Der Feind muß beharrlich, hartnäckig, wahnsinnig – und ist es schon Wahnsinn, so hat er doch Methode – als der schwarze Mann, als Schreckgespenst, als Popanz, als die Wurzel alles Übels, als Abschaum und Schandfleck der Menschheit, als Inbegriff aller Scheuel und Greuel dargestellt werden. Das gehört zum Handwerk des unedlen Mars. – Vor grauen Jahren verkündete zwar ein edler Mensch im Osten als wichtigstes Gebot seines Völkerfriedenstraumes das ‚Liebet eure Feinde’; aber mit so weitentrückter Heilsbotschaft läßt sich weder ein Krieg beginnen noch gewinnen. Andere Gefühle müssen erzeugt, künstlich geweckt, konsequent geschürt, systematisch großgezogen werden, wenn der Krieg nicht infolge antagonistischer Unterernährung ein vorzeitiges Ende finden soll. […] – Mit dem ‚Hasset eure Feinde’ – das hat man allmählich gesehen – ging es auf die Dauer nicht, geht es nur bei beklagenswert primitiven Seelen. Es gibt keinen Kollektivhaß auf einer gewissen Bildungsstufe der Menschheit. Man kann wohl einen einzelnen, aber niemals wahllos eine Gesamtheit hassen. […] Das ist das psychologische Moment des Hasses. – Auch das physiologische versagt. Denn der Haß ist seiner ganzen Natur nach ein so hemmungsloser Trieb der Menschenbrust, daß er nur eine beschränkte Spanne vorhält. Der Haß ist wie ein Gewitter, das nach Entladung lechzt und dann (vielleicht) reinigende Kraft besitzt. Haß läßt sich nicht auf Flaschen füllen, die nach Bedarf entkorkt werden können. […] – Man mußte sich also beizeiten nach einem Ersatzartikel umtun. Er heißt: ‚Verunglimpft eure Feinde’. Das ist das Feldgeschrei oder mehr noch (man soll den Kriegern Gerechtigkeit widerfahren lassen) das Geschrei des heimatlichen Hinterlandes geworden. […] Von einem englischen Dichter stammt das wundervolle Wort: ‚Vulgarity is the behaviour of others’. Will sagen: was man selbst tut, ist wohlgetan; nur der liebe Nebenmensch ist einer Entgleisung fähig. Das eigene Benehmen kann sich niemals eines Taktfehlers schuldig machen; bloß das Verhalten der andern ist gemein. Hier liegt die krasseste Form der Selbstverhimmelung und zugleich die witzigste Paraphrase des biblischen Gleichnisses vor. – Aus der harmlosen Sprache des Gesellschaftslebens in den wühlerischen Ton unserer Tage übersetzt: Verbrechen ist nur, was der Feind tut. […] Auf der einen Seite alles Licht, auf der andern aller Schatten. Hier walten höhere Rücksichten vor, wird das Tun von edlen Motiven bestimmt; dort rast Zerstörungssucht, hat die Hölle ihre Schlünde geöffnet, denn das Sinnen und Trachten des Feindes ist böse ‚von Mutterleib und Kindesbeinen an’. […] – Absolute Vorurteilslosigkeit wird man von keinem heute Lebenden erwarten dürfen. Es ist nicht möglich, im Gewitterregen ohne Schutz trocken zu bleiben. Ebensowenig vermag man, wenn die dicken Hagelkörner der Verleumdung niederprasseln und der Sprühregen der Verhetzung ununterbrochen rieselt, die eigene Haut völlig unbenetzt zu erhalten. Denn der Mensch ist nun einmal, bei allem redlichen Willen zur Objektivität, aus Neigung und Abneigung zusammengesetzt. Selbst der Dichter steht nicht mehr ‚auf einer höhern Warte als auf den Zinnen der Partei’. Die einzige höhere Warte, auf die er flüchten kann, ist der unzerstörbare Turm der Menschlichkeit. Aber wehe ihm, wenn er heute nicht die Strickleiter des Volksgenossentums nachzieht! Sogar Goethes erlauchtes Beispiel wäre nicht imstande, ihn vor der Wut des Haufens zu bewahren. – Vorurteilslosigkeit wird man also von keinem verlangen; doch brauchte darum nicht die Urteilslosigkeit als verbreitetste Seuche des Kriegsaberwitzes ungezählte Opfer zu fordern. […] – Die meisten Menschen sind andere Menschen geworden. Sie schmücken die Fassade des Staatsgebäudes mit weithin leuchtenden Riesenbuchstaben, die zum Durchhalten auffordern, und innerhalb ihrer vier Wände verwünschen, verlästern, verfluchen sie den unseligen Krieg. Wenn man ihre Zeitungen liest, könnte man wähnen, es gäbe keine ‚Kleinmütigen’ unter ihnen; wenn man ihre privaten Äußerungen liest, muß man sich wundern, daß es noch Großmäulige unter ihnen gibt. Alle wissen, daß es sich so verhält, und dennoch reden sie nur von der Müdigkeit der andern. Alle kennen die Wahrheit und dürfen sie nicht sagen. Alle müssen die Friedensschalmei in ihrem Hause überhören und sollen nur die Kriegstrompete im Lager des Feindes hören. Ihr Ohr lügt nicht minder als ihr Auge, das stets nur den Balken im Auge des Nächsten zu gewahren vorgibt. – Aber den meisten Menschen ist überhaupt nichts mehr daran gelegen, die andere Seite zu hören. Wer einen Prozeß führt, kann nicht umhin, von den Schriftsätzen seines Gegners Notiz zu nehmen. Wenn es erlaubt ist, den Krieg in diesem Bilde zu sehen, muß man mit schmerzlichem Bedauern feststellen, daß hier die Schriftsätze des Gegners ungelesen verworfen werden. Das nur bis zur eigenen Nasenspitze reichende und daher unheilvolle Prinzip: ‚Right or wrong – my country!’ hat sich noch einseitiger verschärft, weil der Krieg für das eigene Land kein Unrecht duldet. Gäbe es daheim ein Unrecht, so hieße das in der Sprache der Bibel, daß man den Splitter im eigenen Auge sähe, und viel, sehr viel wäre gewonnen: ein Halt auf der abschüssigen Bahn, die zwei Blinde unfehlbar in die Grube fallen läßt.“
Kleinkrieg der Worte. NZZ, 19. August 1917, Viertes Sonntagblatt, Nr. 1524.
Aufruf zur Beendigung des Weltkriegs und zur Völkerverständigung unter Wortführung der Dichter: „Wie neben dem dröhnenden Erzschritt der Iliade die Batrachomyomachia, der Froschmäusekrieg, einhertrippelt, gleichsam das epische Satyrspiel im Anschluß an die purpurbehangene Tragödie, törichterweise demselben Homer zugeschrieben und doch nicht ohne Tiefsinn, als habe der Herold des Heldentums schon um das vom Kampfe scheinbar unzertrennliche Gezänk und Gestänk gewußt – fast so nimmt sich neben dem sakralen Ernst der Schlachten der Froschmäusekrieg der Worte aus. Seinem Umfang nach noch größer, seiner Temperatur nach nicht weniger hitzig, in seinen Mitteln keineswegs wählerisch, in seinen Wirkungen wenn möglich noch verheerender, hat er, in seinem Kontrast von Aufplusterung und Hilflosigkeit, beinah eine komische Randleiste, wäre es nicht so hoffnungslos niederdrückend, daß er zu keinen greifbaren Ergebnissen führen will. Die Parteien reden nicht miteinander, doch uneingestandenermaßen füreinander, und reden aneinander vorbei. Wie an pathetischen Stellen in den frühen Werken Wedekinds. Ein Wechsel von Worten, die den Gegner wohl erreichen, aber nicht im geringsten erweichen. Monologe, deren akustisches Echo nach dem Muster ‚Wesel – Esel’ gebildet ist, deren seelisches Echo ausbleibt. – Nun hat man uns oft gesagt, vorläufig sprächen noch die Waffen, die Zeit der Worte sei noch nicht angebrochen. Hat es so oft wiederholt, daß die billige, allzu billige Wahrheit auf jedem Marktplatz zu kaufen ist. Wollte man sich diesen Standpunkt zu eigen machen – und besonnene Sprecher, nicht die Rufer im Streite, haben es offenbar getan, wie ihr Verstummen beweist –, so müßte man freilich überzeugt sein, daß in absehbarer Zeit eine Entscheidung des Krieges durch Waffengewalt zu erzielen wäre. In allen Ländern soll es jedoch Beurteiler geben, die dies nach drei Jahren militärischer Höchstleistungen verneinen zu dürfen glauben. Sofern sie dem immer näherrückenden Untergang Europas nicht müßig zuschauen wollen, bleibt ihnen also doch nichts anderes übrig, als auf das dem Menschen von der Natur gegebene Mittel zur Verständigung um keinen Preis länger zu verzichten. Schweigen heißt auf alle Fälle: den Krieg verlängern, selbst wenn Reden nicht heißt: den Krieg abkürzen. Schweigen ist Gold – für die Kriegslieferanten. – […] Wir haben ein bis zum Überfließen volles Triennium der Tat erlebt; anders als Goethes Theaterdirektor fühlen wir uns zu dem Ausruf gedrängt: ‚Der Taten sind genug gewechselt, laßt mich auch endlich Worte seh’n!’ – Worte der Verständigung, nicht Worte zum Fenster hinaus in die leere Luft gesprochen, Worte, die zum andern Ufer, nicht Worte, die weiter in die Irre führen. Die Sprache muß sich wieder auf ihre natürliche Aufgabe besinnen, muß die ihr von der Kultur zugeschobene außer acht lassen. Des Vollblut-Diplomaten Talleyrand Ausspruch, die Sprache sei dem Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen, hat keine Gültigkeit mehr für ein Geschlecht, das sich in den Urzustand zurückgeschleudert weiß. ‚Nature’s end of language’, wie es der Nachtgedanken-Dichter Young genannt hat, der Naturzweck der Sprache muß wieder zu seinem ungeschmälerten Rechte kommen. Und wo Aufrichtigkeit gesät wird, sollte Vertrauen geerntet werden. […] – Wer sollte das Wort führen? – Es ist leichter zu sagen, wer es nicht führen soll. Die nicht, die mit dem Aufwand aller Worte es nicht vermocht haben, die aus tausend Wunden blutende Menschheit auch nur um einen Schritt dem ersehnten Ziele näher zu bringen, sondern sie immer tiefer ins Verderben zu ziehen. […] Nun laßt die andern, die beschämt geschwiegen haben oder vergrämt schweigen mußten, auch einmal ungehemmt zu Worte kommen. Gewährt ihnen Redefreiheit, nur drei Wochen lang – nein, nur drei Tage lang, und man darf unbekümmert jede Wette eingehen, daß sie uns um ein tüchtiges Stück vorwärts bringen werden. Aus dem einfachen Grunde, weil sie die ungeheure Kluft gar nicht erweitern können. Ein Stillstand auf abschüssiger Bahn wäre schon ein Fortschritt, ganz so wie der Arzt den Stillstand einer unheilbaren Krankheit als günstiges Symptom zu betrachten geneigt ist. – Wer soll das Wort führen? Man verlange keine Namen, sie sind vielen vertraut … Mir schwebt eine griechische Sage oder eine von Herodot überlieferte Erzählung vor: als irgendein Volk einmal in furchtbarer Not war, aus der niemand Rettung wußte, richteten sich in der Versammlung der wehrfähigen Männer plötzlich aller Augen auf den Dichter. […] Wollte man im Ernst auf Dichter als Wortführer von Friedensvorbesprechungen hinweisen, man müßte ein homerisches Gelächter als Antwort befürchten. Und doch muß bei manchen der Gedanke im Unterbewußtsein vorhanden gewesen sein; sonst hätte in der schweren Zeit der Not nicht so oft die Forderung nach einer Politisierung der Poeten laut werden können (was immerhin müheloser zu erreichen wäre als eine Poetisierung der Politiker). Der Dichter steht nun einmal von alters her im Rufe eines unpolitischen Lebewesens, ganz so wie er häufig, zum Ärger der Philister, ein amoralisches Lebewesen ist. Dafür besitzt er die Gabe, das Unwahrscheinliche durch seine Wortkunst als Realität hinzustellen – wie es ein Romantiker [nein: Goethe] ausgedrückt hat: ‚Märchen, noch so wunderbar, Dichterträume [Dichterkünste] machen’s wahr.’ – Vielleicht wären sie auch imstande, das Märchen des Friedens wahr zu machen. Dann handelte es sich darum, Dichter zu finden, die nicht minder freimütig als Goethe erklären: ‚Bin Weimaraner, Weltenbürger’; Dichter, die, ohne ihre Volksangehörigkeit einen Augenblick zu verleugnen oder zu vergessen, dennoch ihre kosmopolitische Gesinnung höher bewerten; Dichter, deren Vaterland Europa heißt und deren Herz für die am Rande des Abgrundes taumelnde Menschheit wärmer schlägt als für die vom allgemeinen Kataklysmus bedrohte eigene Nation. – Solche Dichter gibt es. Sie haben in allen Ländern ihre Stimme erhoben. Sie brauchen nicht mehr um Anerkennung zu betteln. Sie können über den Widerstand des blindwütigen Banausen getrost zur Tagesordnung übergehen. Ihr Licht möge in der Finsternis scheinen. Ihnen gehört die Zukunft.“
Zu dem Artikel, der mit vollem Namen gezeichnet war und als Leitartikel ‚über dem Strich’ erschien, veröffentlichte die NZZ am 28.08.17 (Nr. 1583) die Zuschrift eines Lesers, der Anstoß nahm an MMs Gewichtung von Wort und Tat und seiner Maxime „Die Tat geht unter in der Zeit; das Wort allein hat Ewigkeit“: „Was nun aber den zitierten Vers […] und die daran geknüpften Betrachtungen betrifft, so will es mir scheinen, als ob damit die Tat nicht die ihr gebührende Würdigung erfahre. Es dürfte daher nicht unangebracht sein, den Ausführungen des Autors die folgende grundsätzlich verschiedene Auffassung entgegenzuhalten: […] Große Taten haben ihre Diener nach Jahrtausenden noch. So dient der Historiker Mommsen dem Genie des Julius Cäsar, wenn er mit besten Kräften dessen Persönlichkeit darzustellen versucht. Ja, ich möchte sagen: die Geschichte brauchte eben eine hervorragende Darstellung der Persönlichkeit des Julius Cäsar, und hätte Herr Mommsen die Aufgabe nicht unternommen, so hätte es eben jemand anderer, und zwar noch ein Zeitgenosse von ihm getan. So stark und unvergänglich scheint mir Cäsars Lebenswerk. – […] Erst wenn man hinuntersteigt zu den alltäglichen Dingen, mögen sich Wort und Tat zu einem grauen Einerlei vermischen. Da ist es auch ganz belanglos. Da aber, wo die Tat dem ursprünglich Schöpferischen nahesteht, ist sie das einzig Lebendige.“
1918
Weingartner als Redner. NZZ, 22. Januar 1918, Zweites Mittagblatt, Nr. 109.
Kritische Anmerkungen zu Felix von Weingartners Vortrag über die „Grenzen der Musik“ (Beethoven-Saal, 11.01.18). – „Mußte es sein? Felix v. Weingartner, der Meisterdirigent, ein begnadeter Mann der Praxis, fühlte den Drang, sich wieder einmal als Musiktheoretiker zu betätigen, und glaubte auch seine Berliner Gemeinde mit dem schon in Wien gehaltenen Vortrag über die ‚Grenzen der Musik’ im Beethoven-Saal bekannt machen zu müssen. […] Vor unserm geistigen Auge stand ein des Gottes und seines erhabensten Dieners voller Feldherr, wie er, etwa in der Neunten, mit zum Himmel gereckten Armen Begeisterung weckt und das Letzte aus seinen Spielleuten herausholt; vor unserm körperlichen Auge stand ein mit der Brille bewaffneter, seines Schopenhauers voller Sprecher, der sorgsam erwogene Philosopheme in österreichisch gefärbter Mundart ablas und Geist träufelte. Felix, Felix, gib mir meine Illusionen wieder!“
Wiedersehen mit Moissi. NZZ, 6. März 1918, Erstes Morgenblatt, Nr 314.
Porträt des Schauspielers Alexander Moissi (1880-1935). – „Zuletzt sah ich ihn am 9. April 1914. Als den unterernährten Studenten in Strindbergs haßüberfüttertem Drama von der Mutterbespeiung, welches bei uns Der Scheiterhaufen genannt wird. […] Zuletzt schrieb ich hier über ihn am 6. Oktober 1913 […]. Und über seinen Fedja in Tolstois Lebendem Leichnam war am 17. Februar 1913 in diesen Blättern zu lesen […]. Dann kam der Weltkrieg, und Moissi warf sich, vom allgemeinen Rausch mit fortgerissen, dem tätigen Leben in die Arme. Doch bald ermattet sank die Hand. Der Heldentraum zerrann; aufs neue begann die Historionenwirklichkeit. […] Ich krame weiter in persönlichen Erinnerungen. Gemeinsam verbrachte Winterabende in Berlin steigen auf, strahlende Sommertage in London. Ein rußgeschwärztes Bureau in der City; ein Gottesdienst ohne Gott in Bayswater; Laienpredigten im Park; zielloses Wandern durch die Straßen, das regelmäßig bei Gatti endete. Von London aus schickte ich ihm nach Zürich, wo er gerade gastierte, den Entwurf eines Christus-Dramas von George Moore: Der Apostel, das an Kühnheit der Idee seinesgleichen in der Weltliteratur sucht und wie auf Verabredung totgeschwiegen wurde. Der Schauspieler Moissi griff mit echter Begeisterung nach einer unerhörten Rolle. ‚Das Stück wird ungeheures Aufsehen machen, obwohl es gänzlich einfach, nicht sensationslüstern geführt ist. Ich kann kaum schlafen, seitdem ich das kenne. Der Jesus ist eine herrliche Rolle für mich, ich muß sie kriegen!’ Er wird sie nie kriegen; denn selbst wenn einer die Vermessenheit besäße, dem Szenarium George Moores blühendes Fleisch anzusetzen, es wäre ausgeschlossen, daß die Dichtung, die an den Wurzeln des Christentums rüttelt, jemals zu öffentlicher Aufführung freigegeben würde. […] – Diese Stimme haftet im Ohr wie der Klang eines Instrumentes, auch wenn man sie jahrelang nicht gehört hat. Diese Stimme ist unvergeßlich wie ein Rot Tizians. Oder wie das Lächeln der Mona Lisa. Oder wie das Vibrato der Duse, womit sie als Kameliendame in das eine Wort ‚Armando’ alle Lust und alles Leid der Liebe preßte – unverlierbar in einem langen Leben. Hier wird auch der Unterschied fühlbar. Die Stimme der Duse war das Echo der Seele, während Moissis Stimme gefrorene Musik ist, zu ihrer eigenen Grammophonplatte zu erstarren droht. […] Über alles Trennende hinweg grüße ich den edlen Sprech-Sänger Moissi.“
Le malade imaginaire. Zur Verdeutschung des Titels. LE, Bd. 20, Nr. 12 (15. März 1918), 701-703.
Plädoyer, den Titel von Molières Komödie im Deutschen statt mit Der eingebildete Kranke, besser mit Der eingebildet Kranke wiederzugeben: „Euer Ohr kann sich noch nicht an den fremden Klang gewöhnen … Wenn euer Auge den richtigen Titel erst ein paarmal gelesen hat, werdet ihr euch wundern, daß ihr dem falschen so lange Bürgerrecht verliehen habt. Fortan heiße Molières Komödie im Deutschen: Der eingebildet Kranke.“ – Der Romanist Victor Klemperer (1881-1960) – über die Fachgrenzen hinaus heute allseits bekannt durch seine in der NS-Zeit heimlich geführten Tagebücher (Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten) – bemerkt übrigens in seiner Molière-Ausgabe (Leipzig 1950) im Hinblick auf Le Malade imaginaire, daß man „im Deutschen wohl richtiger Der eingebildet Kranke – ich weiß nicht, wo ich den nie durchgedrungenen Vorschlag einmal gelesen habe – als wie üblich Der eingebildete Kranke sagen würde“ (S. XXXVI).
Der Hokuspokus der Geschichte. NZZ, 9. Mai 1918, Erstes Blatt, Nr. 608.
Kritische Anmerkungen zum Begriff der Objektivität in der Geschichtsschreibung und zur Sinnhaftigkeit des Weltkrieges. – „Wie sind die armen Schulkinder zu bedauern, die dereinst die Ereignisse dieses Krieges auswendig lernen müssen! Ein solcher Wust von Namen, Zahlen, Begebenheiten – riesengroß, hoffnungslos. […] Indes, die Schulkinder sind vielleicht am wenigsten zu bedauern. Sie nehmen das Überlieferte ungeprüft hin, machen sich selten Gedanken darüber, zweifeln weder an der Richtigkeit des ihnen vorgesetzen Stoffes noch an der Aufrichtigkeit des Garkochs, kaufen lächelnd – wie man sich gemeinhin ausdrückt – die Katz’ im Sack. Für sie besteht kein Unterschied zwischen dem friedlichen Lehrbuch der Algebra und einer bellikosen Darstellung, zwischen der Logarithmentafel und dem Geschichtsbuch, während für den Erwachsenen kaum ein Unterschied zwischen einem Geschichtsbuch und einem Geschichtenbuch ist. Für die Kinder steht unerschütterlich fest: was da aufgezeichnet ist, hat sich so und nicht anders zugetragen. Der Aufzeichner, von solcher Gutgläubigkeit gerührt, möchte sprechen: Lasset die Kindlein zu mir kommen… – Doch er ist sich bewußt, daß er auch mit andern Lesern zu rechnen hat. Mit Lesern, die während der letzten Jahre einen großen Teil ihrer Zeit damit hingebracht und sich redlich (wenn’s nur redlich war!) abgemüht haben, den Dingen auf den Grund zu kommen; mit Lesern, denen täglich die alte, ewig heikle, ewig ungelöste Frage auf den Lippen schwebt: was ist Wahrheit? – Ja, was ist Wahrheit! Das fragt sich mancher beklommen, wenn er die widerspruchsvollen Darstellungen des einfachsten Vorfalls in verschiedenen Zeitungen liest. […] Verhält es sich so schon bei winzigen Geringfügigkeiten – denn die Prozesse von Privatmenschen gehen das Wohl oder Wehe der Menschheit nichts an –, so wird man ermessen können, welche Kluft einmal die Darstellungen des Weltkriegs trennen wird. Jedes Land wird schließlich den Bericht seines Generalstabs, seine offizielle Lesart der militärischen Ereignisse herausgeben. Tot capita, tot sensus – soviel Köpfe, soviel Auffassungen; soviel Federn, soviel Fassungen. Und nachdem alle Vorarbeiten geleistet sind, wird zu guter Letzt, doch anders als der Poet bei der Teilung der Welt, der Historiker, das Banner der Wissenschaftlichkeit entrollend, sich über den Stoff hermachen. Wie weiland Brennus sein Schwert in die Waagschale warf, wird er den Ölzweig der Objektivität als das Entscheidende mitbringen. Doch die großen Fische, die auf diesen Köder anbeißen, sind im Aussterben begriffen. – Was es mit der vielgerühmten Objektivität, der rostzerfressenden Waffe des Wissenschaftlers, für eine Bewandtnis hat, das hat ein Geschichtsschreiber vom tönenden Pathos und lodernden Temperament Heinrich v. Treitschkes mit unumwundenen Worten ausgesprochen. Jenseits der sogenannten exakten Wissenschaften glaubt kein denkender Mensch von Fleisch und Blut mehr an diesen Hokuspokus, wofür es das gute deutsche Wort Schwindel gibt. Von den frühesten Zeiten an haben denkende Menschen nicht einmal dem lieben Gott völlige Objektivität zugetraut. Die alten Juden hielten sich für das auserwählte Volk, womit sie dem höchsten Wesen eine einseitige Parteinahme zu ihren Gunsten unterschoben; und die verhältnismäßig jungen Amerikaner gefallen sich (obwohl schwerlich andern) noch heut in solchem Glauben. Wie ganze Völker wähnen auch Individuen, sie seien bei der allerobersten Stelle besonders gut angeschrieben. Wenn sie aber, anthropomorpher Vorstellung gemäß, schon nicht imstande ist, sich ihrer Sympathien zu entäußern, wodurch sich unverkennbar Subjektivität kundgibt – wie sollte der staubgewordene Sterbliche dazu fähig sein? – […] Zu den wertvollsten Erkenntnissen dieses Krieges gehört es für uns, daß wir täglich an der Wiege eines Ruhmes stehen, der bestimmt ist, Nachruhm zu werden, und so einen Einblick in die Geschichtsfabrik gewinnen. Wenn die Gegenwart nur aus der Vergangenheit begriffen werden kann, so ist es selbstverständlich, daß wir unser Wissen um die Gegenwart auf die Vergangenheit anwenden. Was wir als Kinder erlernt, als Jünglinge erforscht haben, das erfährt nun tragikomische Korrektur durch das, was wir als Männer erlebt haben. Nichts ist so von Grund auf umgewühlt worden wie unsere Vorstellung vom Krieg selbst. Welche Vergeudung von Zeit und Arbeitskraft liegt darin, daß für die Menschen Leben nicht einfach Lernen, sondern Umlernen heißt! Am Ende ist freilich Umlernen noch fördersamer als mit Irrlehren in die Grube fahren. Aber anscheinend will es die Welt nicht besser: was sie in Jahrzehnten des Aufstiegs gewirkt hat, trennt sie in drei blutigen Jahren des Absturzes wieder auf. Wann wird dieser Penelope der Retter Odysseus erscheinen, der ihr das sinnlose Zerstörungswerk erspart!“
Aus X. NZZ, 25. August 1918, Erste Sonntagausgabe, Erstes Blatt, Nr. 1114.
Aufruf zur Beendigung des Krieges. – „Nicht wahr, man gibt kein Staatsgeheimnis preis, wenn man verrät, daß in Deutschland an manchen Orten augenblicklich kein Überfluß herrscht? Und in Berlin – das weiß jedes Kind – ist die Verpflegung besonders schwierig. Zumal für einen Junggesellen, der gewohnt war, sieben Einladungen wöchentlich zu empfangen, und jetzt, im Hinblick auf die eigenen Vorräte in Küche und Keller, mit dem weisen Bias wehmütig sprechen kann: ‚Omnia mea mecum porto.’ – Um mir die leidige Magenfrage (wie Wippchen gesagt haben könnte) vom Halse zu schaffen, fuhr ich für einige Wochen aufs Land. Zum ersten Male seit Kriegsausbruch verließ ich das Weichbild Berlins. – Früher vertrat ich gerne den Standpunkt, man solle von Berlin zum Vergnügen nur süd- oder westwärts reisen. Diesmal aber ging es, durch die verrückten Zeitumstände bedingt, gen Norden; zur Rechtfertigung meiner unhaltbaren Theorie wenigstens gen Nordwesten. Nach X. (Den Namen werdet Ihr nie erfahren.) – Eine Klavierkünstlerin hatte von dort geschrieben, sie habe in einer Woche sechs Pfund zugenommen; dank einer täglichen Ration von drei Litern Milch und ähnlichen dem Körper Fett zuführenden Stoffen. Eine bessere Empfehlung ließ sich kaum denken. Und sie war nicht übertrieben. Jeden Morgen, jeden Nachmittag, jeden Abend stand ein Litertopf Milch – ein gefüllter, bitte! – neben meiner Tasse. Auch sonst wurden Speisen aufgetischt, die der beklagenswerte Großstädter längst aus dem Gesichtsfeld verloren hatte – sagenumwobene Speisen einer gesegneten Vorzeit. – […] Warum ich das mitteile? Gewiß nicht, um den Futterneid meiner verehrten Schweizer zu wecken. Ebenso wenig, um für das wertgeschätzte X. die Reklametrommel zu rühren. Sondern einfach, weil mir dieser modus vivendi nach vier Kriegsjahren eine ganz große Überraschung war. So läßt sich noch immer in Deutschland leben! Das gibt es hierzulande überhaupt noch! Man fällt von einer Mahlzeit zur andern aus einer Verwunderung in die andere. […] Da aber so eingehend bei dieser Hauptsache (von minderem ethischen Belang) verweilt wird, will ich auch unumwunden bekennen, daß ich einen Zweck damit verbinde. Ich möchte diese Zeitung als Plattform, als Stentor, als Megaphon benutzen, möchte mit aufrichtiger Überzeugung von hier aus in die Welt rufen: gebt euren Wahn auf, Deutschland könne durch den Hunger bezwungen werden! – […] Tatsachen, Freunde, Tatsachen; keine Räsonnements. Sie drängten sich dem unverblendeten Beobachter zu derselben Zeit auf, als Herr v. Kühlmann im deutschen Reichstag seiner Meinung Ausdruck gab, daß eine Entscheidung dieses Krieges rein militärisch vielleicht nicht zu erzielen sei. Aus solchem Munde an solcher Stunde hat ein solcher Satz verstimmt. Darum enthielt er doch einen Truismus, eine heut von der überwiegenden Mehrzahl der Menschheit geglaubte Ansicht. Und was sich inzwischen militärisch ereignet hat, dürfte geeignet sein, dieser Mehrheit noch manchen Anhänger zuzuführen. – Wenn aber dieser Krieg nicht mit Waffengewalt allein entschieden werden kann, worauf sich die Hoffnung der einen Partei gründen durfte; und wenn anderseits die Hoffnung der Gegenseite, den Feind wirtschaftlich zur Strecke zu bringen, sich nicht verwirklichen läßt – wozu dann noch dieses nutzlose Blutvergießen, dieses Hinschlachten der europäischen Jugend? Fragt die Führer der Völker! Sie werden diese Tatsachen bestreiten. Aber heute, wo die Menschheit in allen Ländern gleichermaßen von leiblichem Verderben und seelischer Not bedrängt ist, kommt es nicht mehr darauf an, was einzelne national beschränkte Geister denken und für richtig halten. […] Welcher verständige Mensch hielte diesen Krieg heute nicht, hielte die Fortsetzung des Krieges nicht für Wahnsinn? Er trete vor, damit wir ihn in eine Irrenanstalt sperren lassen können. – … Ich wollte von X. erzählen. Da sind glücklicherweise noch verständige Menschen […] – nirgends eine verbohrte Ansicht. Bei keinem war die für Halbgebildete so bezeichnende Dummheit anzutreffen, die sich in einen Gedanken verrannt hat und jede abweichende Meinung schroff zurückweist. Aus allen klang die lautere Stimme der Menschlichkeit, ein warmes Mitgefühl für die Leiden aller. Da werden Gemeinplätze zu tiefen Weisheiten, und die Sittenlehre sämtlicher Religionen schrumpft zu zwei oder drei Leitsprüchen zusammen. Davon waren diese schlichten Seelen durchdrungen, daß die Menschen überall so empfinden müßten wie sie selbst, und daß das häßliche, hetzerische Gerede, das in den Zeitungen widerhallte, nur die Kundgebung einiger weniger sei, die aus irgendwelchen Gründen zu national übertriebenen Äußerungen gezwungen waren. Sie drückten es wohl nicht so aus, aber sie fühlten es dumpf, daß ‚die wilden Esel des Nationalismus’ [H.G.Wells, Mr Britling schreibt bis zum Morgengrauen] die Menschheit auf diesen Irrweg gestoßen hatten und sie dort festzuhalten bemüht waren, weil ihnen vor dem Tag der Abrechnung graute, der ja doch einmal kommen mußte. – Und Menschlichkeit durchaus lag in ihrem Verhalten gegenüber den Kriegsgefangenen. […] Hierher sollte man eine ‚Greuel-Kommission’ schicken, damit sie in Wort und Bild aufzeichne, wie die Kriegsgefangenen in Deutschland behandelt werden. Der stille Betrachter konnte sich des Gedankens nicht erwehren: möchten es doch die Gefangenen überall so haben! Dann wären sie berufen, wenn sie dereinst heimwärts ziehen, den riesengroßen, jetzt hoffnungslos scheinenden Haß mit der Wurzel auszureißen und sich für ihre Person zu dem unvergänglichen, alle menschliche Güte umfassenden Schibboleth zu bekennen: ‚Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da.’“